Design Thinking ist mehr als ein albern anmutendes Workshopformat

Da ist es wieder, mein Lieblings-Würzwort des Jahres 2015: DESIGN THINKING. Es geistert durch die Führungsetagen deutscher Unternehmen und durch die einschlägige Managerliteratur. Manche sehen darin nur alten Wein in neuen Schläuchen, andere die Lösung aller Probleme. Findige Agenturen erheben Design Thinking zum modernen Heilsbringer und verkaufen damit abgewandelte Brainstorming-Workshops mit teilweise albern anmutenden Ritualen zum Aufbrechen von Routinen.

Für mich ist Design Thinking ein Set von Haltungen und Prinzipien. Das oberste Prinzip ist dabei die Neugier und das Streben nach tiefem Verständnis der Bedürfnisse und Emotionen der Anwender bzw. Zielgruppe. Dabei setzt man eher auf das gründliche Beobachten der Zielgruppe im realen Kontext, als auf statistische Befragungsverfahren.

„Innovationen, angetrieben durch … direkte Beobachtung dessen, was die Menschen in ihrem Leben wollen und brauchen und was sie an der Art und Weise, wie bestimmte Produkte gefertigt, verpackt, vermarktet, verkauft und unterstützt werden, mögen oder nicht mögen … Es ist eine Disziplin, die sich aus der Sensibilität und Methoden des Designers bedient, um den Anforderungen der Menschen mithilfe dessen gerecht zu werden, was technologisch machbar ist und was mittels Geschäftsstrategie in Kundenwerte und Marktchancen verwandelt werden kann.“ Tim Brown (1)

Danach folgt das schnelle Visualisieren von Ideen mit einfachen Mitteln, wie z.B. Prototypen, Modellen, Wireframes oder Zeichnungen sowie das Ausprobieren dieser Ideen mit der Zielgruppe. Die Visualisierung muss dabei nur so gut sein, dass sie ausreicht, um die Idee zu erleben und sich hineindenken zu können. Für die Visualisierung sowie zum Ausprobieren bzw. Testen von Ideen werden in der Regel klassische oder abgewandelte Methoden aus dem Human Centered Design angewendet, beispielsweise Rapid Prototyping, Usability Testing, Contexual Inquiries, Co-Creation oder Participatory Design.

Die so visualisierten Ideen dienen aber nicht nur dem Ausprobieren. Sie sind auch eine wichtige Zutat für die offene Kommunikation im Unternehmen. Die Ideen und deren Visualisierungen werden nämlich nicht im stillen Kämmerlein unter dem Deckmantel der strengen Vertraulichkeit entwickelt. Sie hängen oder stehen offen sichtbar in den Projekträumen … an Wänden, auf Kapa-Boards, auf Tischen. Sie laden zur Diskussion ein, zeigen Zukunftspläne auf und inspirieren andere Mitarbeiter. Design Thinking braucht eine Kultur der Offenheit.

Ein weiteres Prinzip ist die Akzeptanz von Fehlbarkeit. Man geht davon aus, dass eine Idee nicht im ersten Schritt richtig sein muss. Es ist erlaubt zu Scheitern. Es ist erwünscht daraus zu lernen und neue Ideen zu generieren. Design Thinking setzt auf die Befruchtung eines Unternehmens durch die geschickte Visualisierung und Diskussion von halbgaren bis ausgereiften Ideen.

“Design Thinking ist eine Erkundungsmethode für unbekanntes Gelände.” (2)

Design Thinking ist für mich darüber hinaus ein Denkansatz, der Unternehmen hilft, aus ihrem eigenen System auszubrechen und Freiraum für Innovationen zu schaffen. Damit Design Thinking funktioniert muss man zwischen dem analytischen Denken zur Systematisierung bzw. Optimierung der bestehenden Geschäftsidee und der intuitiven Suche nach neuen Geschäftsideen differenzieren. Beim Betrieb eines bestehenden Software- bzw. Produktangebotes wird nach den Regeln der Systematisierung vorgegangen (Analytisches Denken, Systematische Analyse, Verlässlichkeit, Quantitatives Nachhalten, Optimieren, bestehendes Wissen ausbauen, Sicherheitsdenken, Gutes Bewahren). Es geht ja schließlich darum bestehendes Geschäft zu sichern und auszubauen. Es ist mir an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass Bestandswahrung, Sicherheitsdenken usw. grundsätzlich nicht falsch sind. Sie sind notwendig, da sie die finanzielle Grundlage für die Weiterentwicklung des Unternehmens sichern. Anders ist es bei der Entwicklung von neuen Produkten. Hier stehen Neugier, intuitives Denken, Verstehen wollen, Beobachten, Bauchentscheidung und Risikobereitschaft im Vordergrund. Das Forschen und Experimentieren wird im Design Thinking höher geschätzt, als das Befolgen von Regeln.

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt zu beachten: Design Thinking ist nicht nur Aufgabe der Designer. Es sind die intuitiven und experimentellen Vorgehensweisen, die Designer schon in ihrer Ausbildung vermittelt bekommen, die auf alle Mitarbeiter des Unternehmens übertragen werden sollen. Es geht darum die Weiterentwicklung des Unternehmens aus den Sichtweisen aller Mitarbeiter des Unternehmens heraus zu betrachten. Interdisziplinäre Zusammenarbeit wird beim Design Thinking GROSS geschrieben.

Auf eine wichtig Sache gibt Design Thinking aber nur bedingt eine Antwort: “Wie schaffen es die Ideen zurück in die bestehende Linienorganisation?”. Ich glaube, dass die Antwort auf diese Frage jedes Unternehmen für sich selbst finden muss. Design Thinking kann den Weg dafür ebnen, dass das Immunsystem eines Unternehmens durchlässiger für neue Ideen wird. Der konkrete Einfluss und der Wirkungsgrad hängt aber meiner Einschätzung nach immer von der jeweiligen Unternehmenskultur ab.

Für mich zeichnen sich Designorientierte Unternehmen dadurch aus, dass sie das Erlebnis ihrer Kunden in den Mittelpunkt stellen. Sie betrachten zuerst in einem interdisziplinären Team das geschäftliche Problem aus Sicht des Kunden. Sie suchen die optimale Gestaltung eines Produktes oder Services auf iterativen bzw. experimentellen Wegen, um dieses Problem zu lösen. Sie beschäftigen sich erst dann mit der konkreten technischen Umsetzung, wenn sie die beste Lösung gefunden haben. Designorientierte Unternehmen nutzen Design als Transportmedium ihrer Firmenphilosophie. Sie verankern Design im Management des Unternehmens. Sie wenden Regeln und Prozesse nur an, wenn es um die Systematisierung bzw. die Optimierung der bestehenden Geschäftsidee geht. Sie lassen und schaffen bewusst Freiräume für Intuition und Neugier, in dem das Immunsystem eines gestandenen Unternehmens eine Idee nicht schon im Keim erstickt.

Siehe auch

  • Martin, R. L. (2009): “Design of Business: Why Design Thinking is the Next Competitive Advantage”
  • (1) Gothelf, Jeff (2015): „Lean UX – mit der Lean-Methode zu besserer User Experience“, mitp
  • (2) Erbeldinger, J. / Ramge, T. (2015): “Durch die Decke denken – Design Thinking in der Praxis”, redline
  • Kolko, J. (2015): “Wie Design Thinking Unternehmen revolutioniert”, Harvard Business Manager (11/2015)

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