UX Stammtisch Franken: Barrierefreiheit

Im letzten Jahr wurden weitere wichtige gesetzliche Grundlagen für barrierefreie digitale Angebote geschaffen. Die Bundesregierung modernisierte das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und die EU verabschiedete eine neuen Richtlinie für die Barrierefreiheit von Webseiten und mobilen Applikationen für öffentliche Stellen. Das Thema Barrierefreiheit scheint nun Schritt für Schritt den Stellenwert zu bekommen, der für eine barrierearme bzw. barrierefreie digitale Welt notwendig ist.

Aus diesem Grund haben wir den ersten UX Stammtisch Franken des Jahres dazu genutzt, einen gemeinsamen Blick darauf zu werfen, wie es in Franken aktuell um das Thema Barrierfreiheit in Franken bestellt ist.

Zum Auftakt berichtete Christian Müller (Accenture Digital) aus seiner umfangreichen praktischen Erfahrung bei der Umsetzung von barrierefreien digitalen Angeboten. Dabei ging es ihm nicht um die Vorstellung gesetzlichen Rahmenbedingungen, Verordnungen und Richtlinien, wie z.B.

  • Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)
  • EN 301 549 “Accessibility requirements suitable for public procurement of ICT products and services in Europe”
  • EU-Richtlinie 2016/2102 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen
  • Web Content Accessibility Guidelines – WCAG
  • Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung – BITV 2.0
  • Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts (VergRModG)

Im Kern seines Vortrags ging es ihm darum, für eine breitere Sichtweise auf Barrierefreiheit zu werben. Barrieren gibt es nämlich nicht nur für die 80 Millionen Europäer mit Behinderungen. Auch Menschen mit temporären Einschränkungen, wie z.B. mit einem Gipsarm, mit einer zu hohen Sonneneinstrahlung auf dem Handy-Display oder mit zu geringen Sprachkenntnisse, erleben in ihrem Alltag Barrieren.

“Barrierefrei ist etwas, wenn es für alle Nutzer gleich zugänglich ist.”

Weiterhin erfordert die zunehmende Digitalisierung eine bessere Berücksichtigung von Anforderungen an die Barrierefreiheit. Die Vermischung von physischen Objekte und digitalen Dienste bietet viele neue Möglichkeiten neue Zielgruppen mit Einschränkungen besser in die digitale Welt zu integrieren.

“Die digitale und analoge Welt wächst immer mehr zusammen und sollte als Ganzes barrierefrei sein.”

Durch die Digitalisierung und die Berücksichtigung von Anforderungen an die Barrierefreiheit können sich Unternehmen völlig neue Zielgruppen erschließen. Damit sind vor allem Zielgruppen gemeint, die heute Einschränkungen haben, die eine Verwendung des Angebote dieser Unternehmen verhindern. Beispielsweise könnten autonome Fahrzeuge Blinden völlig neue Freiheitsgrade in Sachen Mobilität ermöglichen, wenn die Fahrzeuge von Anfang an barrierefrei gestaltet würden.

In seiner beruflichen Praxis erlebt Christian Müller heute noch zu wenige Unternehmen, die ihre Produkte und Angebote barrierefrei gestalten. Manche Unternehmen argumentieren beispielsweise:

  • “Barrierefreiheit ist zu komplex.” oder “Die Kosten für barrierefreie Produkte sind zu hoch.” oder “Das bekommen wir zeitlich nicht mehr in den Projektplan.”
    • Einige Unternehmen wissen nicht, was sie tun müssen. Es existiert ein gefährliches Halbwissen über Barrierefreiheit.
    • Auch UX Designer wissen zu oft wenig darüber, wie sich schicke und nützliche Webseiten gestalten lassen, die barrierefrei sind.
  • “Das ist nicht unsere Zielgruppe.”
    • Unternehmen ist nicht bewusst, dass Menschen mit Einschränkungen ihre Zielgruppe sein könnten.
  • “Was haben wir davon, wenn wir das machen?”
    • Barrierefreiheit wird in Europa meist sehr stark unter monetären Return-on-Investment-Überlegungen betrachtet.
  • “Wir müssen das nicht machen.”
    • Unternehmen fühlen sich gesetzlich nicht verpflichtet, etwas für barrierefreie Produkte zu tun und sind sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht bewusst.

Aber es gibt auch gute Beispiele, wie z.B. Adobe oder Apple.

Für die Implementierung von Barrierefreiheit in den Entwicklungsprozess empfiehlt Christian Müller nach folgendem Muster vorzugehen:

  • Ziel festlegen: z.B. WCAG Konform sein … wichtig dabei ist es, sich realistische und erreichbare Ziele zu setzen.
  • Status Quo erheben
  • Roadmap für die Erreichung des Ziels definieren und kleine Schritte machen
  • Aufbau einer Community of Practice für Barrierefreiheit im Unternehmen
  • Anforderungen für Zielgruppen mit Einschränkungen in das Requirement Engineering integrieren
  • Während der Entwicklung mit Design Reviews und Code Reviews die Berücksichtigung der Anforderungen an Barrierefreiheit sicherstellen
  • Nutzer mit Einschränkungen über den gesamten Entwicklungsprozess hinweg einbeziehen

Darüberhinaus empfiehlt er allen, die sich mit Barrierefreiheit beschäftigen wollen, einen Blick auf den Kurs “Web Accessibility” von UDACITY (Google) zu werfen.

Nach dem Impulsvortrag von Christian diskutierten die über 40 Teilnehmer des UX Stammtisch Franken folgende Fragestellungen:

Christian, wie wird man zum Experten für Barrierfreiheit?

Da es aktuell noch keine richtige Ausbildung für Barrierfreiheitsexperten oder eine Zertifizierung gibt, ist hierbei sehr viel Eigeninitiative erforderlich. Die Disziplinen Usability bzw. User Experience bieten gute Ausgangskenntnisse dafür.

Welche Bedeutung hat das Thema in der täglichen Arbeit?

Einige Teilnehmer berichten davon, dass sie in ihrer täglichen Arbeit auf die Barrierfreiheit von Farben (Kontraste) und Schriften (Lesbarkeit, Skalierung) oder Tastaturbedienbarkeit Wert legen. Sie erachten dies als notwendig, da dadurch Einschränkungen adressiert werden können, die mit zunehmenden Alter häufiger vorkommen, wie z.B. Fehlsichtigkeiten oder eine schlechte Feinmotorik in den Händen.

Einige berichten davon, dass Barrierfreiheit in ihren Projekten gar keine Bedeutung hat. Barrierefreiheit lässt sich in der Praxis schlecht verkaufen. Es fehlen Business Cases, welche die Kosten und Aufwände für ROI-getriebene Manager rechtfertigen. Einzelne Teilnehmer haben in Projekten erlebt, dass Barrierefreiheit dann an Bedeutung gewinnt, wenn Führungskräfte des Unternehmens selbst von Einschränkungen betroffen sind.

Die Teilnehmer waren sich darin einig, dass das Thema Barrierfreiheit erst richtig an Bedeutung gewinnen wird, wenn der Gesetzgeber entsprechende Vorgaben macht.

“Barrierefreies Design wirkt oft klobig und nicht so ansprechend.”

Barrierefreiheit wird oft im Gegensatz zu einem ansprechenden visuellen oder interaktiven Design gesehen. Dabei müssen nicht alle Dinge, die Barrierefreiheit fördern, im Produkt sichtbar sein, wie z.B. einstellbare Farbschemata, technische Zugänglichkeit für Screenreader oder alternative Bedienoberflächen. Grundsätzlich wird es als Herausforderung gesehen, die unterschiedlichen Bedürfnisse und Anforderungen im Sinne von “Design für alle” abzuwägen und in eine gute Produktgestaltung zu überführen.

Barrierfreiheit als Wettbewerbsvorteil

Barrierefreiheit kann nach Ansicht der Teilnehmer zum Wettbewerbsvorteil werden. Wenn ein Unternehmen in einem Markt arbeitet, in dem nur sehr wenige Unternehmen die Anforderungen an Barrierefreiheit berücksichtigen, kann ein barrierefreies Angebot neue Zielgruppen erschließen. Wenn es gelingt Barrierefreiheit, genauso wie User Experience, nicht nur als reine Pflicht, sondern als Wettbewerbsvorteil zu platzieren, kann es sich ebenso in Unternehmen verankern lassen.

“Eine gute UX ist nicht einfach zu kopieren. Das ist ja mittlerweile auch in der Vorstandsetage angekommen.”

UX Designer sind in der Pflicht

Vielen UX Designer fehlt nach Ansicht der Teilnehmer aktuell noch das Wissen, die praktischen Erfahrungen und die Empathie für Barrierefreiheit. Eine Teilnehmerin brachte es so auf den Punkt:

“Ich habe noch nicht das Gefühl, dass der Kampf um gute Usability/UX zu Ende geführt ist und das Barrierefreiheit deshalb durch UX Designer nicht so viel Aufmerksamkeit bekommt.”

Einige Teilnehmer, die sich in ihrer täglichen Arbeit mit Barrierfreiheit beschäftigen, berichteten davon, dass sich Barrierefreiheit und der Human-Centered-Design-Prozess eigentlich gut verbinden lassen. Dazu müssen allerdings die entsprechenden Testtools in “Greifweite” und Kenntnisse verfügbar sein. Außerdem muss ein einfacher Zugang zur Zielgruppe geschaffen werden.

Apropos “Zielgruppe”: Die teilweise fehlende Berücksichtigung von Barrierefreiheit in der Praxis der UX Designer könnte auch daran liegen, dass UX Designer lernen, dass die User Experience umso besser gestaltet werden kann, je spitzer die Zielgruppe ist. Es liegt die Vermutung nahe, dass mehrheitlich mit Zielgruppen gearbeitet wird, die möglichst homogen sind. Die Berücksichtigung von zusätzlichen Anforderungen könnte in diesem Sinne als Gefahr für ein erfolgreiches Endergebnis gesehen werden.

“UX Designer müssen lernen Barrierefreiheit in ihrer normalen Arbeit zu berücksichtigen, ohne dabei den Fokus zu weit aufzumachen.”

Es sollte für UX Designer zum Berufsethos gehören, sich mit Barrierfreiheit zu beschäftigen und es bei ihrer tägliche Arbeit zu berücksichtigen. Ein Anfang könnte sein, nicht nur glückliche Super-Personas bei der Entwicklung zu berücksichtigen, sondern realistische Durchschnittspersonas mit den typischen Einschränkungen.

Und jetzt?

In unserer Gesellschaft steht ein ideales Menschenbild im Mittelpunkt – schön, sportlich, leistungsfähig. Einschränkungen werden zu oft einfach ausgeblendet. Aber können wir es uns leisten, Menschen von einer Erwerbstätigkeit auszuschließen, nur weil die Arbeitsmittel der digitalen Welt nicht barrierefrei sind?

“Wenn wir eine Webseite bauen würden, die für Frauen nicht zugänglich wäre, dann wäre aber die Hölle los wie Seuche. Frauen waren auch lange benachteiligt und es hat über 100 Jahre gedauert um das zu ändern. Haben wir den gleichen Kampf jetzt noch mal vor uns?”

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