Warum wir User Experience anders denken sollten #wuc20 #wucconnect

Ich habe vor langer Zeit mal gelernt, dass unter User Experience alle Wahrnehmungen und Reaktionen einer Person verstanden werden, die sie bei der tatsächlichen oder angenommenen Nutzung eines Produktes oder Services hat. Eine positive User Experience wird in der Praxis als das Ergebnis der geschickten Orchestrierung und handwerklichen Qualität von Gestaltung, Funktionalität und Produkteigenschaften verstanden.

„A person’s perceptions and responses that result from the use and/or anticipated use of a product, system or service.”

DIN EN ISO 9241-210

Wir gehen heute davon aus, dass

  • Bei entsprechender Gestaltung, Funktionalität und Eigenschaften eines Produktes bzw. Services
  • im Zusammenspiel mit Vorerfahrungen, Kenntnissen, Fähigkeiten und der Persönlichkeit der Nutzer
  • sowie einem relevanten Nutzungskontext

ein positives Erlebnis entstehen kann.

Ich habe jedoch das Gefühl, dass diese Sichtweise auf UX unvollständig ist. Es gibt immer wieder Beispiele für Produkte und Services, die zwar im Sinne dieser Definition mit hohem Aufwand auf Nutzer sowie Nutzungskontext ausgerichtet werden, denen es dann aber doch nicht gelingt am Markt dauerhaften Erfolg zu haben. Es scheint über diese Definition hinaus noch andere Mechanismen zu geben, die einen maßgeblichen Einfluss darauf haben, ob Menschen ein positives Erlebnis haben.

Balance aus Erwartungen und dem tatsächlichen Erlebnis

Schauen wir zunächst mal darauf, warum Unternehmen in Kundenerlebnisse investieren. Kunden, die positive Erlebnisse mit einem Unternehmen sowie dessen Produkten bzw. Services haben, kaufen gern wieder bei diesem Unternehmen. Soweit so bekannt. Ist das Erlebnis besonders gut, erzählen Menschen auch anderen gern davon, wie toll es war. Durch das Weitererzählen entsteht ein Image, welches langfristig zu Umsatzwachstum führt. Neben dem Umsatz wächst aber auch die Heerschar an loyalen Kunden, was dann dazu führt, dass die Marktposition des Unternehmens gefestigt wird. Unternehmen investieren also in Customer und User Experience um erfolgreicher zu sein.

Damit sich eine Investition in User Experience richtig lohnt, muss am Ende ein Erlebnis entstehen, das bei den Nutzer*innen Freude oder sogar Begeisterung auslöst. Mit Freude meine ich einen positiven bzw. befriedigenden Gemütszustand, der bis zum Glücksgefühl reichen kann. Freude ist ein zentrales Ziel des Lebens und damit eine Art Grundmechanismus für das Experience Design. Menschen wollen Erlebnisse, die Freude bereiten, gern wiederholen. Freude ist das ultimative Maß für Erlebnisse. Wir können daher die Qualität von User Experience an der Freude messen, welche ein Nutzer während und nach der Nutzung des Produktes erlebt.

Jetzt stellt sich natürlich die Frage, warum wir uns freuen. Ich werde nicht versuchen, Freude aus wissenschaftlicher Sicht zu betrachten. Ich bin weder Psychologe noch Philosoph noch Neurologe um dies in angemessener Weise tun zu können. Ich bin Praktiker. Daher versuche mich mal über eine praktische Sicht der Frage zu nähern.

Freude entsteht in Situationen, in denen Menschen sich wohlfühlen oder positiv überrascht werden und durch Erinnerungen an solche Situationen. Im Kontext von Produkten und Services fühlen wir uns wohl, wenn uns die Dinge, die wir erreichen wollen, einfach gelingen. Es fühlt sich angenehm an, wenn es einfach ist mit einem Produkt bzw. Service die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. In diesem Fall passen Produkt bzw. Service ganz genau zu den Nutzern und dem Nutzungskontext.

Große Freude oder Begeisterung empfinden wir Menschen, wenn Produkt oder Service nicht nur genau zu uns und dem Nutzungskontext passen, sondern es darüber hinaus positiv überraschen. Diese positive Überraschung ergibt sich meist dadurch, dass unsere Erwartungen an das Erlebnis mit dem Produkt oder Service übertroffen werden. Beispielsweise geht es viel einfacher, als wir erwartet haben.

Ein Beispiel dafür habe ich kürzlich selbst erlebt. Ich habe mir in diesem Jahr ein digitales Fahrtenbuch gekauft. Mein Bedürfnis hinter dem Kauf ist es, weniger Steuern zahlen zu müssen. Dafür muss ich meine Fahrten rechtskonform digital dokumentieren. Dieses digitale Fahrtenbuch muss in das Fahrzeug eingebaut und mit einer App verbunden werden. Alles in allem eine sehr langweilige und komplizierte Sache. Ich hatte mir vor dem Kauf die Hersteller-Webseite angesehen. Das war eine typische Werbe-Webseite mit zahlreichen Versprechen. Ich ging davon aus, dass diese ohnehin nicht vollständig gehalten werden können. Das kennt man zum einen von vielen neuen digitalen Services und zum anderen sind Steuerangelegenheiten immer kompliziert. Was mich dann total überrascht hat, war die Ästhetik in der das Produkt daherkam. Die Verpackung und die gesamte Einrichtung waren mit so viel Liebe gestaltet. Dieses digitale Fahrtenbuch war überhaupt nicht langweilig. Die Einrichtung war so einfach, dass sie mit ein paar wenigen Handgriffen auf dem Parkplatz erledigt war. Ich war über dieses Erlebnis so begeistert, dass ich meiner Freude gleich über Twitter Luft gemacht habe.

Ich versuche den Zusammenhang von Erwartungen und Erlebnissen noch mit einem anderen Beispiel zu verdeutlichen. Nehmen wir mal an, dass Du ein Festival besuchen willst. Du freust Dich auf sonnige Tage mit krachender Musik und lauten Party-Nächten. Leider spielt das Wetter nicht mit. Es regnet ohne Unterbrechung. Aber der Veranstalter war drauf vorbereitet. Er ging von aus, dass viele Besucher sonniges Wetter erwartet hatten. Am Eingang wurden daher kostenlose Regencapes verteilt. Über die Lautsprecher entschuldigte sich der Veranstalter sehr humorvoll für den Matsch auf dem Festivalgelände. Der Matsch wurde unerwartet zum Teil des Festivalerlebnisses.

In beiden Beispielen hatte die Balance aus Erwartungen und dem tatsächlichen Erlebnis einen großen Einfluss darauf, wie die Menschen das Erlebnis bewerteten und wie sie darauf reagierten. Wenn es Unternehmen also gelingt diese Erwartungen rechtzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren, lassen sich selbst negative Erlebnisse in eine positive Wirkung verwandeln.

Was sind eigentlich Erwartungen? Erwartungen sind im Grunde nichts anderes als eine gedankliche Vorstellung über zukünftige Ereignisse bzw. Erlebnisse. Es ist eine Annahme darüber, was passiert und wie es sein wird bzw. sein soll. Erwartungen entstehen unter anderem aus Bedürfnissen und werden durch Vorerfahrungen, den direkten bzw. indirekten Versprechen des Unternehmens und den Erfahrungsberichten anderer Menschen geprägt.

Was sollten wir anders machen?

Es ist heutzutage selbstverständlich, dass sich UX Professionals um UX-Aspekte wie z.B. Ergonomie, Effizienz, Erlernbarkeit, Haptik oder Ästhetik kümmern. Visuelle Gestaltung, Informationsarchitektur, Interaktionsgestaltung und Usability werden als die wesentlichen Elemente für die Gestaltung von User Experience gesehen. Die Berücksichtigung von Erwartungen kommt bei der Gestaltung der Erlebnisse jedoch meist zu kurz. Vereinzelt kann man in Unternehmen heute schon eine Veränderung bezüglich der Gestaltung der Balance zwischen Erwartung und Erlebnis beobachten. UX Professionals und Marken-Experten arbeiten dort enger zusammen, um User Experience und Markenimage in Einklang zu bringen. Das ist positiv, da das Markenimage ein Hebel ist, um die Erwartungen der Nutzer richtig zu setzen.

Ich unterstütze diese Entwicklung. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass das noch nicht ausreichend ist. Wir sollten die gestalterische Arbeit an der User Experience von der Produktnutzung, auf die Customer Journey-Phasen ausdehnen, in denen Erwartungen entstehen. Wenn wir als UX Professionals weiterhin den Anspruch haben wollen, dass wir die Erlebnisse unserer Kunden gestalten, dann sollten wir unseren Blick auf das Entstehen, Verstehen und Setzen von Erwartungen ausweiten.

Wir sollten uns mehr damit beschäftigen, wie Erwartungen durch Vorerfahrungen, durch direkte Versprechen des Unternehmens (z.B. Marketing & Vertrieb), durch indirekte Versprechen des Unternehmens (z.B. Markenimage) oder durch die Erfahrungsberichte anderer Menschen gesetzt werden. Neben der Gestaltung der Produktnutzung müssen wir unser Augenmerk auch auf Dinge richten, die vor der Produktnutzung stehen: Vorerfahrungen mit vergleichbaren Produkten bzw. Services aus anderen Branchen, Markenkampagnen, Werbung, Vertriebsaktionen, Influencer und Empfehlungen. Wir sollten uns mehr damit beschäftigen, welche Versprechen Unternehmen geben, die später im Erlebnis gehalten werden müssen. Wir sollten daran arbeiten, dass die Erwartungen durch Versprechen nicht so stark überzogen werden, dass das Produkt bzw. Service diese niemals erfüllen kann.

Wir sollten intensiver daran arbeiten eine Balance zwischen den Erwartungen der Nutzer und dem, was die Nutzer konkret erleben, herzustellen. Es sollte unser Ziel sein, das Erlebnis mit dem Produkt so zu gestalten, dass Erwartungen der Nutzer mindestens erfüllt bzw. besser noch übertroffen werden. Die Formel für eine erfolgsversprechende Balance lautet: Die Erwartungen sollten hoch genug sein, dass ein Nutzungsinteresse entsteht und das Produkt im Vergleich zum Wettbewerb genügend Aufmerksamkeit erhält. Das eigentliche Erlebnis sollte idealerweise besser sein, als die Erwartungen. Es sollte idealerweise positiv überraschen.

Wir sollten uns nicht nur mit den gestalterischen und ergonomischen Grundlagen von User Experience beschäftigen. Wir sollten uns damit beschäftigen, was Menschen im Kontext von Produkten und Services begeistert. (Stichwort: Kano-Modell).

Darüber hinaus sollten wir uns noch mehr mit dem Einfluss Dritter auf das Nutzungserlebnis beschäftigen. Nehmen wir nochmal das Beispiel vom Festival. Das Interesse an der Teilnahme und auch die Erwartungen im Vorfeld des Festivals werden häufig durch Erfahrungsberichte Dritter beeinflusst. Das persönliche Erlebnis wird aber auch Nachgang von Dritten beeinflusst. Wenn dich nach dem Festival viele Menschen dafür bewundern, dass Du auf diesem Festival warst, wird sich Deine Einschätzung zum Festivalerlebnis und damit auch die Erwartung an Deinen nächsten Besuch nochmals verändern. Wenn wir beispielsweise Personas für ein Produkt definieren, sollten wir auch die Menschen berücksichtigen, welche einen Einfluss auf die Erwartungen unserer Nutzer haben.

Damit es gelingt, diese Balance aus Erwartung und Erlebnis zu erzeugen, müssen die Personen im Unternehmen, die mit ihrer Arbeit die Erwartungen der Kunden spürbar beinflussen (z.B. Vertrieb und Marketing), ganz nah mit denen zusammenarbeiten, die Produkt bzw. Service gestalten und entwickeln (z.B. UX Design, UX Research, Softwareentwicklung). Im Grunde ist das ein weiteres Argument für crossfunktionale und interdisziplinäre Teams. Aber das ist eine andere Geschichte.

Fazit

Die Gestaltung guter User Experience erfordert es, nicht nur die Wahrnehmung und die Reaktionen einer Person, die sich aus der Verwendung eines Produktes oder Services ergeben, zu betrachten. User Experiences, die den Unternehmenserfolg steigern, sind meistens diejenige, bei denen die richtige Balance zwischen den Erwartungen der Menschen und dem tatsächlichen Erlebnis herrscht. Das Erlebnis sollte immer wieder besser sein, als die Erwartungen. Gutes UX Design beginnt vor der Nutzung bei den Erwartungen der Menschen und überzeugt dann mit nutzergerechter visueller Gestaltung, Informationsarchitektur, Interaktionsgestaltung und Usability.

(Diesen Beitrag habe ich auf dem World Usability Congress 2020 #wucconnect unter dem Titel “An invitation to rethink User Experience” vorgestellt.)

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