In diesem Beitrag habe ich Dir die Talks des dritten Tages des World Usability Congress (2. Konferenztag) zusammengefasst, die ich besucht habe. Im Wesentlichen ging es um die Themen Designsysteme, UX-Vision, Experience Strategy und Product Discovery.
Design System at large scale
Julien Vanière sprach über den Aufbau und die Nutzung eines Designsystems bei Sage. Unter einem Designsystem versteht er ein Set an Standards für die Produktgestaltung, das Doppelaufwände vermeiden, als Basis für eine gemeinsame Sprache dienen und visuelle Konsistenz über Produkte hinweg erzeugen soll. Die Nutzung eines Designsystems kann die Produktentwicklung vereinfachen, das High-Fidelity-Prototyping unterstützen, die Evangelisierung von Design-Methoden fördern und Wirtschaftlichkeit der Produktentwicklung steigern. Durch den Einsatz des Designsystems spart Sage in der Produktenwicklung ca. 31.000 Stunden pro Jahr. Diese Zahl wurde mit dem Design System ROI Calculator errechnet. Konkret besteht das Designsystem bei Sage aus technischen Komponenten, einer Figma-Library, Richtlinien und Beschreibungen zur Produktgestaltung.
Designsysteme sind gerade im Trend. Es nützt aber nichts, ein Designsystem einfach nach Lehrbuch einzuführen, um auch eines zu haben. Ein Designsystem muss auf die Anforderungen und Prioritäten des Unternehmens bzw. der Produktgestaltung ausgerichtet sein. Eine der größten Herausforderungen ist es, eine gute Balance zwischen maximaler Einheitlichkeit in der Produktgestaltung und kreativen Freiraum im Entwurfs-/Entwicklungsprozess zu finden. Weitere herausfordernde Fragen beim Aufbau von Designsystemen sind:
- Brauchen wir ein oder mehrere Designsysteme? (z.B. Mobile, Web, Desktop, …)
- Wie sollte das Team für die Erstellung des Designsystems aussehen?
- Wir priorisieren wir, was wir im Designsystem tun?
- Wie unterstützen wir Entwickler:innen bei der Nutzung des Designsystems?
Er empfiehlt mit den Bedürfnissen der Anwender:innen und der Kolleg:innen in der Produktentwicklung zu starten. Danach sollten die wesentlichen Designprinzipien definiert werden. Vollständigkeit sollte zu Beginn nicht angestrebt werden. Die Einführung eines Designsystems sollte von einem guten Erwartungsmanagement bei den Kolleg:innen begleitet werden. Das ist eine vertrauensbildende Grundlage. Die Kommunikation und der Einbezug von Kolleg:innen ist eine wichtige Tätigkeit bei der Einführung und beim Betrieb eines Designsystems. Bei Sage gibt es alle zwei Wochen einen Austausch zwischen Designsystem-Team und Entwicklungsteams.

Von diesem Startpunkt sollte die Weiterentwicklung des Designsystems in Iterationen erfolgen. Bei Sage werden dafür OKRs genutzt. Dabei ist es herausfordernd das richtige Level für die Qualität zu finden. Designer:innen haben manchmal den Hang zur Perfektion bis ins letzte Detail. Diese ist aber nicht erreichbar, da es irgendwann schlicht zu teuer wird.
Das Designsystem-Team besteht aus 10 Mitarbeitenden in unterschiedlichen Rollen. In dem Team arbeiten Menschen mit den Rollen UX-Design, Research, Content-Writing, UX-Architektur, Accessibility, Entwicklung und Product Owning. Es wird viel Wert auf ein gutes Onboarding von neuen internen bzw. externen Mitarbeitenden gelegt. Der Zusammenhalt im Designsystem-Team ist erfolgsentscheidend. Die Priorisierung der Aufgaben erfolgt auf Basis der Bedürfnisse der Anwender:innen, der Pareto-Regel und dem Wertversprechen des Designsystems. Das Team ist sich bewusst, dass man es als Unterstützungseinheit nicht jedem:r Kolleg:in recht machen kann.
Development and application of UX visions for goal-oriented experience design
Dominique Winter stellte einen Ansatz für die Erstellung von UX-Visionen vor. Eine UX-Vision ist Werkzeug zur Meinungsbildung und zur Erzeugung eine gemeinsamen Verständnis darüber zu erzeugen, was die Anwender:innen nach der Nutzung über das Produkt sagen sollen. Es beschreibt, was konkret erreicht werden soll und warum das Team gemeinsam an dem Produkt arbeitet.

User Experience besteht aus den Erwartungen an das Erlebnis mit dem Produkt, dem tatsächlichen Nutzungserlebnis und Erlebnissen in wiederkehrenden Phasen der Produktnutzung. Der Fokus einer UX-Vision liegt auf der Erinnerung an alle Nutzungserlebnisse mit dem Produkt, über die Menschen sprechen und nachdenken.
Welche Faktoren zu einer gute UX führen, hängt stark vom Produkt bzw. der Produktkategorie ab. Faktoren für UX können beispielsweise Einfachheit, Verlässlichkeit oder Ästhetik sein. Bei einem Webshop sind beispielsweise Vertrauenswürdigkeit, Klarheit und Transparenz wesentliche Faktoren für eine gute UX.
Eine UX-Vision kann auf den unterschiedlichen Faktoren aufgebaut werden. Dazu veranstaltet Dominique Card-Sorting-Workshops. Darin werden die verschiedenen möglichen Faktoren für UX mit dem Produkt auf Karten geschrieben. ((Siehe „On the Importance of UX Quality Aspects for Different Product Categories“) Die Teilnehmenden werden dann gefragt, was sind die 3-5 wesentlichen Faktoren, die für das Produkt relevant sind. In Product Vision Interviews stellt eine Person das Produkt mit diesen Faktoren in Form einer Geschichte vor. Eine zweite Person motiviert die Erzähler:in durch Nachfragen die Geschichte auszubauen. Die dritte Person beobachtet und schreibt die Faktoren auf, die für das Produkt relevant sein könnten.
Aus diesen Faktoren entsteht eine UX-Vision nach dem Muster „Menschen sollen sich besonders an das …, … und … unseres Produktes erinnern.“. Das kann um Zielgruppe und Bedürfnisse erweitert werden. Die UX-Vision muss aber so einfach sein, dass sich das Team den Satz merken und diesen wiederholen kann. Beispiel „For People like Erik, our electricity generation visualization software is a quick, easy but fun way to accurately quantify his contribution to sustainability.”
Auf dieser Basis können konkrete UX-Ziele abgeleitet werden. Durch Messmethoden, wie z.B. UEQ+, können diese mit Zahlen konkretisiert werden. Diese UX-Ziele werden in User Storys und andere Backlog-Items integriert. Das Team kann dadurch sehen, auf welche Ziele eine bestimmtes Backlog-Item einzahlt. Das kann im Planning-Poker die Priorisierung der Backlog-Items erleichtern, da der Einfluss auf die Erreichung eines bestimmten UX-Ziels sichtbar wird.
Um die Erreichung der UX-Ziele zu steuern, empfiehlt er die Einführung von UX-Controlling. UX-Controlling bezeichnet das kontinuierliche Monitoring der Erreichung der UX-Ziele. Dafür werden Messmethoden, wie z.B. UEQ+, regelmäßig genutzt. Diese Messen in engen Zyklen die am Anfang des Projektes definierten UX-Faktoren. Dominique hat einen kostenfreien Canvas für die Erstellung einer UX-Vision veröffentlicht.
Company-wide Experience Strategy
Anouk Vastert (SAP) gab in ihrem Vortrag Einblicke in die Entwicklung einer unternehmensweite Experience Strategy. Die Experience Strategy bei SAP dreht sich um das Thema Kundenzentrierung und umfasst sowohl Aspekte der User Experience als auch der Customer Experience.
Unter Customer Experience versteht sie alles, was Unternehmen für ihren Kund:innen tun oder anbieten und wie sich das für diese anfühlt. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass sich Menschen am meisten daran erinnern, wie sie sich in einer bestimmten Situation gefühlt haben. Unternehmen werden erfolgreich wenn,
- es einfach ist mit ihnen ins Geschäft zu kommen.
- sie es so machen, dass es für ihre Kund:innen passt.
- sie outside-in agieren und
- sie ein konsistentes Erlebnis über alle Kontaktpunkte bieten.
Die Entwicklung einer Experience Strategy beginnt mit der Zusammenstellung eines crossfunktionalen Kernteams, welche Vertreter:innen aus den unterschiedlichen Bereichen eines Unternehmens umfasst. Zusätzlich zu diesem Kernteam gibt es ein erweitertes Team, welches aus Sponsor:innen aus dem Management und Multiplikator:innen besteht.
Das Kernteam beginnt mit der Analyse der Markenversprechen und Markenwerte. Diese werden in praktische Prinzipien für die tägliche Arbeit im Unternehmen übersetzt. Sie sollen Mitarbeitenden eine Orientierung bieten.

Diese Prinzipien bilden das Fundament für die Experience Strategy. Aus diesen wird ein Framework abgeleitet. Das Framework beschreibt durch welche Projekte und Maßnahmen die Prinzipien in die Praxis übertragen werden sollen. Aus diesen Überlegungen wird eine konkrete und einfache CX-Vision formuliert. Die CX-Vision beschreibt woher das Unternehmen kommt und wohin es sich transformieren will. Beispielsweise von „komplizierte Prozesse“ zu „Einfachheit“.
Um die praktische Umsetzung der UX-Vision nachhaltig zu fördern, ist es hilfreich kontinuierlich den wirtschaftlichen Nutzen der konkreten Projekte und Maßnahmen zu zeigen. Außerdem sind Journeys, Reifegradmodelle sowie das kontinuierliche Sammeln und Auswerten von Kundenfeedback über alle Kunden-Kontaktpunkte nützliche Hilfsmittel.
Um ein Unternehmen kundenzentriert auszurichten, braucht man ein starkes Programm und Geduld. Solche Vorhaben sind Change Management und erstrecken sich in der Regel über mehrere Jahre. Dabei geht es vor allem darum, Stakeholder von einem aktuellen Zustand in Richtung der CX-Vision zu bewegen. Sie nutzt dazu diese Visualisierung:

The Best and Worst Practices of the Discovery Phase
Jaime Levy beschrieb gute und schlechte Ansätzen für die Discovery Phase in der Produktentwicklung am Beispiel der Wohnungssuche in Berlin
Discovery ist der Akt etwas Neues herauszufinden oder zum ersten Mal zu Lernen. In Bezug auf die Produktentwicklung bedeutet es, das Erforschen des Problemraums, das konkrete Beschreiben des zu lösenden Problems, das Sammeln von ausreichenden Erkenntnissen um den ersten Schritt zu definieren. Sinnvolle Methoden für die Discovery Phase sind:
- Stakeholder-Interviews,
- Wettbewerbsanalysen,
- Ideation-Workshop,
- Interviews mit Kund:innen,
- Prototyping-Experimente und
- Kritisches Denken.
Gute Stakeholder-Interviews setzen solide Grundkenntnisse in der Fachdomäne voraus. Mit diesen Kenntnissen ist es möglich gute Fragen zu stellen, um deren Ziele, geschäftliche Anforderungen, Geschäftsmodelle und ähnliches zu erkunden. Es ist hilfreich das Gehörte zu dokumentieren und ihnen im Nachgang für ein Review zur Verfügung zu stellen. In der Wettbewerbsanalyse geht es darum den Markt in seiner Gesamtheit kennenzulernen und direkte sowie indirekte Wettbewerber mit deren Stärken und Schwächen zu erkennen. Die Analyse sollte zeitlich begrenzt werden, um sich nicht zu verlieren. Es sollte konkret und greifbar herausgearbeitet werden, wie sich das eigene Produkt differenzieren soll.
Damit Ideation-Workshops gelingen, sollten sie mit einem konkreten Ziel und Ergebnis ausgestaltet werden. Den Teilnehmer:innen sollte klar sein, warum sie teilnehmen. Templates und Methoden sollten auf dieses Ziel und die Ergebnisse angepasst werden. Die Agenda sollte mit konkreten Zeiten versehen und diszipliniert moderiert werden. Idealerweise spielt man die Agenda vorher mit einem:r Kolleg:in durch. Am Ende sollten die Ergebnisse in konkreten Erkenntnissen und nächste Schritten zusammengefasst werden.

In Interviews mit Kund:innen geht es darum deren Einstellungen, Bedürfnisse, Erwartungen und Pain Points zu verstehen. Es ist wichtig Menschen zu diesen Interviews einzuladen, die der Zielgruppe entsprechen. Die Interviews sollten aufgezeichnet werden, damit sich die Interviewer:innen auf das Gespräch konzentrieren können. Am Ende sollten auch hier die konkreten Erkenntnisse und nächste Schritte zusammengefasst werden.
Das Prototyping dient dazu herauszufinden, ob das angestrebte Erlebnis entsteht. Es hilft mit einem Storyboard zu beginnen und dann High-Fidelity-Prototypen zu erstellen. Diese können dann mit Anwender:innen getestet werden. Der Prototyp sollte im Sinne von „build, measure, learn“ iterativ verbessert werden.

Designing Disney Magic at Walt Disney World Resort
Dan Hamer-Hodges schloss den diesjährigen World Usability Congress mit einem Beitrag über Disney Magic und wie diese in den Urlaubsresorts sowie Parks von Disney entsteht. Mit Disney Magic meint er das Erlebnis, welches Menschen haben, wenn sie einen Disney-Film sehen oder Disney World besuchen. Der Begriff „Disney Magic“ beschreibt die Experience-Vision von Disney und das Erlebnis, welches die Mitarbeitenden von Disney schaffen wollen.
„The magic is as wide as a smile and as narrow as a wink, louder as laughter and quiet as a tear, tall as a tale and deep as emotion. So strong, it can lift the spirit. So gentle, it can touch the heart. It is the magic that begins the happily ever after.” – Walt Disney
Das Erlebnis von Disney wird vor allem durch das Erzählen von Geschichten, Überraschungen, Vergnügen und Innovationen ausgestaltet.
Dan sprach über einen Service namens „Disney PhotoPass“, der das Storytelling unterstützen soll. Disney macht überall an den Urlaubsorten und Parks professionelle Fotos von den Besucher:innen. Dadurch sollen die Momente eingefangen werden, in denen die Besucher:innen besondere Erlebnisse haben und diese Erlebnisse unvergesslich werden. Die Fotos werden professionell arrangiert. Seit Covid können Fotos mit Disney-Charakteren auch selbst durch die Besucher:innen via Augmented Reality gemacht werden.

Damit tatsächlich Fotos entstehen, die das Erlebnis unvergesslich machen, wird sehr viel über die Experience der Fotografen nachgedacht – egal ob es sich dabei um Disney-Mitarbeitende oder Besucher:innen handelt. Die Photographer-Experience wird sorgfältig und bis ins letzte Detail gestaltet.
Überraschungen und Vergnügen sind ein wesentliches Element. Diese Momente entstehen durch Interaktionen mit Disney-Mitarbeitenden oder durch entsprechend gestaltete Attraktionen. Beispielsweise werden in Fotos Mickey Mouse-Zeichen versteckt, die nicht sofort ersichtlich sind. Teilweise werden Fotos so nachbearbeitet, dass Disney-Charaktere später in der arrangierten Szene erscheinen.
Zum Abschluss betonte er die Rolle der Mitarbeitenden in der Entstehung von Disney Magic und positiven Erlebnissen. Das Erlebnis in den Disney Resorts wird sorgfältig konzipiert und alle Voraussetzungen geschaffen, dass es positiv wird. Aber ohne die Disney-Mitarbeitenden würde es nur ein Traum bleiben.