Anfang Juni hatte ich das große Vergnügen, an der Working Products 2024 Konferenz in Hamburg teilzunehmen. Die Working Products dreht sich um die Themen agile Produktentwicklung, Produktkultur und Produktmanagement. Die Konferenz fand im charmanten Goldbekhaus statt, welches mit seiner einladenden Atmosphäre perfekt für den intensiven Wissensaustausch und das Networking geeignet war. Die Working Products ist in jeder Hinsicht besonders. Sie ist keine normale Konferenz mit vielen Vorträgen und vielen Menschen, sondern mehr ein Ort der Inspiration und des Lernens, an dem man sich im kleinen Kreis zum Dialog trifft. Die Konferenz ist so angelegt, dass man fast automatisch mit vielen der ca. 150 Teilnehmenden aus den Bereichen Produktmanagement, Product Ownership und UX ins Gespräch kommt.
Außerdem merkte man an vielen Stellen der Konferenz, dass den beiden Hosts Beate und Rolf Menschlichkeit und Nachhaltigkeit sehr wichtig sind – seien es an der Übung zur Selbstachtsamkeit zu Beginn des Konferenztages, dem veganen bzw. vegetarischen Essen oder der Auswahl der tiefgründigen Keynote. Einfach gut.
An dieser Stelle ein großes Dankeschön an Beate und Rolf Schulte Strathaus für die Organisation der Working Products und die Einladung zum Vortrag.
Hier sind meine Eindrücke und die wichtigsten Erkenntnisse aus den einzelnen Vorträgen, die ich mir angesehen habe:
Beyond Products: Der Paradigmenwechsel zum Journey Owner – Jens Scharnetzki (Yello & EnBW)
Jens Scharnetzki eröffnete die Konferenz mit einem spannenden Vortrag über das Journey Management bei EnBW. Er stellte die Rolle der Journey Owner:innen vor, die den traditionellen Product Owner:innen ergänzt, indem sie die Bedürfnisse der Kunden in den Mittelpunkt stellen. Hauptaufgabe der Journey Owner:innen sind Stakeholder-Alignment, Identifikation der Touchpoints, Identifikation von Stärken bzw. Schwächen von Journeys auf Basis von Daten, Optimierung der Zusammenarbeit zwischen Teams, Priorisierung sowie Umsetzung der Maßnahmen zur Verbesserung der Journeys, kontinuierliches Monitoring der Journeys und natürlich Mapping der Journeys in theydo.io. Der Journey-Ansatz ermöglicht es EnBW, Produkte End-to-End auf Kundenbedürfnisse auszurichten und so eine tiefere Kundenzentrierung zu erreichen.
Spannend fand ich den praktischen Ansatz, mit dem EnBW Agilität umsetzt. Dabei setzt das Unternehmen nicht auf große Frameworks, sondern adaptiert das, was tatsächlich zu mehr Agilität und Geschwindigkeit führt. Agilität, Kundenzentrierung und Technologie sind die Eckpfeiler der Digitalisierungsstrategie von EnBW. Um die Kundenzentrierung zu verbessern, setzt EnBW neben dem Einsatz von Journeys auf crossfunktionale Teams, in denen UX- und CX-Kompetenzen einen festen Platz im Team haben. Die Teams sollen so aufgestellt sein, dass sie alle 4 Phasen des Journey Production Loops gut beherrschen:
- Explore: Verstehen, was Menschen machen wollen.
- Ideate: Was wollen wir anbieten, um das Bedürfnis zu erfüllen?
- Build: Lösung bauen, Journey weiterentwickeln
- Promote: Neue Lösung bewerben und schauen, wie es ankommt.
Jedes Epic für die Produktentwicklung wird mit einer Journey verknüpft. Damit wird sichergestellt, dass die Produktteams wissen für welche Journey bzw. Kund:innen sie arbeiten. Außerdem werden Customer und Business Goals definiert. Customer Goals beschreiben die Bedürfnisse, die es zu erfüllen gilt. Business Goals definieren die geschäftlichen Ziele.
Für Jens schafft der Journey-Ansatz Klarheit und Verantwortungsgefühl, weil er den Moment bzw. das Erlebnis, den die Kund:in mit EnBW haben, in den Mittelpunkt stellt.
Verhalten essen Produktivität auf – Sy Vincent Schmitz (T-Systems)
Sy Schmitz betonte in seinem Vortrag die Bedeutung von Führungsverhalten für die Produktivität von Teams. Er stellte Techniken wie emotionale Intelligenz und soziale Sicherheit vor, die Führungskräfte nutzen sollten, um dysfunktionales Verhalten zu minimieren und eine positive Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Emotionale Intelligenz umfasst Selbstwahrnehmung, Selbstregulierung, soziale Kompetenz und Beziehungsmanagement. Ein zentrales Element war die Förderung von psychologischer Sicherheit, die es den Mitarbeitenden ermöglicht, offen und ohne Angst vor negativen Konsequenzen zu kommunizieren. Psychologische Sicherheit meint keinen Safespace, in dem man alles sagen kann. Es ist die Grundlage für maximale Leistung. Es geht darum einen Raum zu erzeugen, in dem Menschen ihre Gedanken vorbringen können und wollen.
Customer Journey Maps im wahren Leben – Thorsten Steinbach (verivox)
Thorsten Steinbach teilte seine Erfahrungen aus der Praxis bei Verivox und erklärte, wie Customer Journey Maps genutzt werden können, um Pain Points zu identifizieren und Produkterfolg zu messen. Er betonte die Bedeutung von datengetriebenen Ansätzen und multivariaten A/B-Tests, um die Conversion Rate zu erhöhen und Stakeholder zu überzeugen. Ein iterativer und datengetriebener Ansatz hilft dabei, kontinuierlich Wert für Kunden und Unternehmen zu schaffen. Er unterstrich den Nutzen von Customer Journeys als Methode zur Verbesserung von bestehenden Produkten.
Aus seinem Vortrag nehme ich mir den Impuls mit, dass es beim Stakeholder-Management auch darum geht, sich über Ergebnisse das Vertrauen der Stakeholder:innen und damit Raum für das eigene Agieren zu erarbeiten.
Der OpenSpace
Die zweiten Hälfte des ersten Tages war als OpenSpace bzw. Barcamp angelegt. Die Teilnehmenden hatten so Gelegenheit ihre eigenen Themen und Fragen einzubringen. Für mich war das ein toller Gradmesser, um zu sehen, was die Produktmanagement-Community aktuell so umtreibt. Die Teilnehmenden beschäftigten sich im OpenSpace u.a. mit
- der Transformation zur journey-orientierten Organisation,
- Metriken zur Fortschrittskontrolle in der Produktentwicklung,
- dem Übergang von der Projekt- zur Produktdenke,
- den Umgang mit schnellem Personalwachstum,
- Best Practices für den Aufbau von Produktmanagement-Teams und crossfunktionalen Teams,
- der Geschwindigkeit in agilen Entwicklungsprojekten,
- der Etablierung von Barrierefreiheit in Produktteams,
- den finanziellen Aspekten des Produktmanagements sowie
- dem Zusammenspiel Produktmanagement und Product Ownership.
Omnikrise – Die Dringlichkeit als Chance begreifen – Christoph Hassler
Christoph Hassler startete den zweiten Konferenztag inhaltlich mit tiefgründigen Gedanken zu aktuellen globalen Krisen und betonte die Notwendigkeit, diese als Chance für nachhaltige Veränderungen zu nutzen. Er zog Parallelen zu historischen Epochenübergängen. Er zitierte den Zukunftsforscher Horx, der mit Blick auf die aktuelle Situation von einer Omnikrise spricht. Die Omnikrise umfasst die Krisen zu Globalisierung (z.B. Putins Krieg, Chinas Machtanspruch), Demokratie (z.B. Triumph der Autokraten, Populismus), Gesundheit (z.B. Sinken der Lebenserwartung, Zivilisationskrankheiten), Wohlstand (z.B. Gesättigte Märkte, Sinn-Entleerung), Klima (z.B. Extremwetter, Klimaleugnung), Kognition (z.B. Verschwörungswahn) und Metatechnik (z.B. KI-Monster). Er stellte die Theorie von Kondratjew vor, nach der sich die Industrie in regelmäßigen Zyklen sprunghaft entwickelt und ging der Frage nach, ob wir uns aktuell in einem solchen Übergang zwischen zwei Kondratjew-Zyklen bzw. Epochen befinden.
Als größte Herausforderung sieht er aktuell, dass sich langfristige Entscheidungen bzw. Themen, wie z.B. Kundenzufriedenheit oder Mitarbeiterzufriedenheit, nahezu unmöglich anfühlen. In vielen Unternehmen wird aufgrund des Drucks von außen eher kurzfristig gedacht. Selbst werteorientierte Unternehmen haben es aktuell schwer, ihren Werten treu zu bleiben.
Für die Suche nach Wegen aus der Omnikrise zitiert Christoph das Blackspace Manifesto und schlägt folgende Ansätze vor:
- Wenn man über technologische Produkte nachdenkt, gehört das Nachdenken über deren gesellschaftliche Auswirkungen dazu.
- Denken in 10 Jahres-Zyklen und Ökosystemen
- Weniger Hierarchie, mehr Dialog, Inklusion und Befähigung
- Fokussierung auf authentische Beziehungen
- Verbindung zwischen Menschen und die Förderung der Zusammenarbeit im Alltag
- Lernorientierte Einstellung der Menschen
- Die Schaffung von Raum für die Stimmen und Geschichten von Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen
10 Strategien um digitale Nachhaltigkeit zu integrieren – Stefanie Kruse (reThink Product)
Stefanie Kruse präsentierte zehn Strategien zur Integration von Nachhaltigkeit in die digitale Produktentwicklung. Sie möchte mit ihrem Beitrag Produktteams zu mehr Nachhaltigkeit in der digitalen Produktentwicklung motivieren. Das ist wichtig, da die IT-Industrie für 2-5% der klimaschädlichen Treibhausgase verantwortlich ist.
Ihre 10 Strategien sind:
- Nachhaltigkeit bereits in Ideenfindung und Journey Mapping berücksichtigen.
- Nur die Funktionen entwickeln, die wirklich gebraucht werden und die Ziele der Beteiligten erfüllen.
- Nachhaltigkeit und Inklusion bei der Produktentwicklung berücksichtigen.
- Nur die Daten dauerhaft speichern, die dauerhaft genutzt werden.
- Künstliche Intelligenz verantwortungsbewusst nutzen und nur dort einsetzen, wo es unbedingt erforderlich ist.
- CO2-Footprint von Produkten sichtbar machen.
- Nachhaltigkeit und Barrierefreiheit im Unternehmen schulen.
- Nachhaltigkeit in die DoD integrieren.
- Nachhaltigkeit im Sinne der geschäftlichen Ziele formulieren.
- Multiplikatoren für Nachhaltigkeit im Unternehmen finden.
Organization as a Product – Marcel Semmler (Bauer Media)
Marcel Semmler stellte die Idee vor, Organisationen als Produkte zu betrachten. Er ging von Conwas Beobachtung aus:
“Organizations which design systems (in the broad sense used here) are constrained to produce designs which are copies of the communication structures of these organizations.”
Marcel zog Parallelen zwischen Produkt- und Organisationsentwicklung. Er zeigte auf, wie Methoden der Produktentwicklung auf die Organisationsentwicklung übertragen werden können, um eine kontinuierliche Verbesserung zu erreichen. Semmler betonte, dass ein systemisches Denken und die Anwendung agiler Methoden wie SCRUM und Kanban auch in der Organisationsentwicklung wertvolle Werkzeuge sein können. Er zeigte aber auch auf, wo die Anwendung agiler Methoden bei der Organisationsentwicklung auf (rechtliche) Grenzen stoßen.
Corporate eats Product? – Annette Greil und Christina Lange (Metro Digital)
Annette Greil und Christina Lange teilten ihre Erfahrungen mit der beeindruckenden Transformation von METRO Digital von einem IT-Service-Provider zu einer produktorientierten Organisation.
“Vom einem IT-Service-Provider in eine Produktorganisation zu entwickeln, fühlt sich an wie Pacman spielen. Kleine Erfolge werden manchmal einfach von der Organisation aufgefressen.”
Metro Digital möchte zu einer produktgetriebenen Organisation werden, die digitale Lösungen für das globale Geschäft des B2B-Händlers Metro bereitstellt. Die wesentliche Herausforderung dabei sind die unterschiedlichen Bedürfnisse bzw. regionalen Gegebenheiten der 24 Länderorganisationen sowie die Etablierung einer neuen Arbeitsweise, die sowohl IT als auch Business integriert. (BIZTECH)
Sie begannen den Transformationsprozess damit, den Produktgedanken in den Alltag des Unternehmens zu übersetzen. Im Zentrum stand die Frage, welchen Wert Metro Digital für die Kund:innen der Metro liefert. Es geht darum, wie die Metro-Kund:innen einkaufen können, um ihre Geschäfte zu betreiben. Außerdem wurde ein Product Coaching zur Befähigung der Product Teams eingeführt.
Weitere Ansatzpunkte waren Product Discovery, Product Teams, Produktmanagement, Kundenkontakt, OKRs und Journeys:
- Product Discovery: Solides Problemverständnis und Empathie durch Beobachtung bzw. Mitarbeit vor Ort im Metro-Markt oder bei Metro-Kund:innen.
- Product Teams: Crossfunktionale Teams, die in der Lage sind, mit Daten und Metriken, z.B. zum Nutzungsverhalten, zu arbeiten. Product Coaches unterstützen die Teams dabei, die Produktstrategie mit Zweck, Ziele und Metriken zu definieren. Die Product Teams haben im besten Fall keine formale Führungskraft. Jede Person hat Entscheidungsbefugnis für ihre Themen. Die Teams sind so organisiert, dass sie mit Abhängigkeiten gut umgehen können.
- Produktmanagement: Einführung eines datengetriebenen Produktmanagements
- Kundenkontakt: Gemba-Walks zur Förderung des Kontaktes zwischen Mitarbeitenden und Kund:innen.
- Journeys: Daran wird aktuell gearbeitet.
One Size fits all. Oder? – Stefan Brinkmann (Deutscher Sparkassen und Giroverband)
Stefan Brinkmann schloß die Konferenz mit einem Vortrag über die nutzerzentrierte Weiterentwicklung der Sparkassen Banking App und die Herausforderung, eine App zu entwickeln, die für mehr als 17 Mio Menschen funktionieren muss. Er erläuterte anhand von vielen Beispiele, welche Herausforderungen es dabei gibt und wie sie konkret damit bei der Entwicklung der Sparkassen-App umgegangen sind.
Interessant fand ich, dass große Änderungen beim Launch nicht mit einer großen Marketing-Kommunikation begleitet werden. Änderungen werden veröffentlicht und die Reaktionen von Anwender:innen sowie Presse beobachtet. Stoßen die Änderungen auf positive Resonanz, kann eine verstärkende Marketing-Kommunikation erfolgen. Diese Vorgehensweise bedeutet auch ein Umdenken und Lernen bei den Stakeholder:innen. Der Umgang mit Kundenfeedback will einfach geübt sein. Generell kann man sagen, dass die Entwicklung der Sparkassen-App beeindruckend nutzerzentriert erfolgt. Dabei werden qualitative und quantitative Verfahren genutzt.
Stefan erläuterte die Bedeutung der datenbasierten Personalisierung von Bedienoberflächen für die zukünftige Entwicklung von Produkten. Auf diese Weise kann zukünftig sichergestellt werden, dass die App den unterschiedlichen Bedürfnissen der zahlreichen Zielgruppen gerecht werden kann.
Mein Fazit
Die Working Products 2024 in Hamburg war eine großartige Veranstaltung, die mich mit ihren eindrucksvollen Vorträgen, den intensiven Networking-Möglichkeiten und der tollen Atmosphäre überzeugt hat. Fazit: Sehr empfehlenswert und gerne wieder.