Im Oktober 2024 hatte ich wieder die Gelegenheit und Ehre, den World Usability Congress in Graz zu besuchen. Warum es dieses Mal eine ganz besondere Ehre für mich war, werde ich Dir später erzählen. In vier intensiven Tagen mit über 500 Teilnehmer:innen wurden zahlreiche Vorträge zu Themen wie Enterprise UX, „AI & UX“, Change by Design, Stakeholder Management, Risikomanagement aus UX-Sicht und Design Governance geboten. Namhafte Expert:innen aus der Branche, darunter Vertreter von Allianz, SAP und METRO.digital, gaben praxisnahe Einblicke in die Gestaltung von Kundenerlebnissen, UX in der digitalen Transformation und die Herausforderungen von B2B-UX.
Die WUC ist für mich eine der besten Fachkonferenzen für UX & CX. Nicht nur, dass es sehr viele qualitativ hochwertige Vorträge gab. Die Konferenz ist so ausgestaltet, dass es sehr leicht fällt, mit anderen UXler:innen in Kontakt und Austausch zu kommen. Man merkt, dass die gesamte Konferenz als Journey mit vielen “kontaktfreudigen” Touchpoints aufgebaut ist.
Die folgenden Themen sind die Essenz meiner persönlichen Eindrücke und Erkenntnisse, die ich auf der Konferenz gewonnen habe. Neben dem, was ich gesehen habe, gab es zahlreiche Vorträge bzw. Workshops zu AI & UX, UX-Methoden und UX-Kompetenzen.
Enterprise UX: Effizienz, Risiko und Konsistenz als Erfolgsfaktoren
Die Beiträge von Daria Tarawneh (Miro) und Scott Parker zeigten eindrucksvoll die Besonderheiten von UX im Unternehmenskontext. Enterprise UX wird als Wegbereiter für Produktivität und Automatisierung von Arbeitsabläufen verstanden, die oft durch komplexe und langwierige Benutzerinteraktionen gekennzeichnet sind. Die von Scott hervorgehobene Bedeutung von Designprinzipien für Konsistenz und Skalierbarkeit ist in diesem Kontext essentiell. Ein konsistentes „Look and Feel“ kann helfen, die Customer Experience zu optimieren und konsistente Erlebnisse über die Grenzen die Organisationseinheiten eines Unternehmen hinweg zu bieten.
Daria berichtete sehr anschaulich und amüsant aus ihrem Leben als UXler:in in einem B2B-Unternehmen. Sie ging auf Vorurteile gegenüber B2B-Unternehmen ein und motivierte die Zuhörer:innen für eine UX-Tätigkeit im B2B-Umfeld. Sie zeigte auf, wie positiv sich das Produktdesign auch im B2B-Umfeld in den letzten Jahren entwickelt hat und wie groß der Bedarf an UX in diesem Umfeld ist. Sie sprach über die Herausforderungen für UXler:innen, die in diesem Umfeld arbeiten und zeigte ihre Lösungsansätze auf.
“Enterprise UX Design stands at the crossroads of improving productivity and user satisfaction at scale within professional environments. The main purpose is to improve productivity and automate workflows.”
Daria Tarawneh
Simone Zunterer (Eplan) beschrieb in ihrem Vortrag einen Ansatz, wie UX Teil des Risikomanagements eines Unternehmens werden kann. UXler:innen tragen dazu bei, das Risiko von Kosten durch nachträgliche Anpassungen aufgrund von Kundenkritik oder Imageverlust zu verringern. Aus der Perspektive des Risikomanagements lässt sich UX einerseits leichter argumentieren. Andererseits hilft eine risikobasierte Bewertung von Projekten, UX-Ressourcen in kritische Projekte zu investieren.
Nancy Kumar (Airbus) stellte Designstrategien zur Verbesserung von Problemen in der Luftfahrt vor. Sie zeigte auf, wie eine Designstrategie als Teil der Unternehmensstrategie dazu beitragen kann, konkrete Herausforderungen wie die Reduzierung von Verspätungen zu bewältigen.
Design Governance
Alina Rubina und Susanne Haselbauer von der Allianz berichteten in ihrem großartigen Beitrag, wie sie den Governance-Prozess für die Gestaltung von Kundenkontaktpunkten so verbessert haben, dass mit weniger Aufwand mehr gestalterische Konsistenz über die vielen digitalen Kundenkontaktpunkte hinweg entsteht. Dabei setzen sie auf einen kooperativen Governance-Ansatz. Dieser zielt darauf ab, die Front-End-Maturity des Unternehmens zu erhöhen. Unter Front-End-Maturity verstehen sie die Fähigkeit eines Unternehmens, erfolgreich nutzerzentrierte Assets bereitzustellen. Dies beinhaltet:
- Look&Feel: UI Design und Usability
- Frontend-Qualitäten: Performance, Technology Compliance, Anzahl UI-Bugs
- Skalierbarkeit: Nutzung UI Library, konfigurierbarer Code und Wiederverwendung von Code
- Barrierefreiheit: A11Y-Tests und Audits
- Messung von Nutzungsverhalten und Erhebung Nutzerfeedback
Diese Kriterien werden von den Teams in einem agilen Delivery-Setup zur Selbsteinschätzung ihrer Front-End-Maturity verwendet. Die Governance-Struktur der Allianz zeigt einen Weg auf, wie Unternehmen mit komplexen Strukturen und einem agilen Entwicklungsvorgehen durch einen kooperativen Governance-Ansatz konsistente Markenerlebnisse schaffen können.
UX und Künstliche Intelligenz
In einem Vortrag über die Rolle von KI in der UX diskutierte Jasmeet Sethi, wie sich die Interaktion von Menschen mit Maschinen verändert. Die Interaktion von Menschen mit Maschinen verändert sich von deterministisch (vorhersehbar) zu probabilistisch (unvorhersehbar, zufällig). Das hat Auswirkungen auf die Rolle von UX-Designer:innen. Anwender:innen müssen zukünftig mehr als Teil des Systems verstanden werden und der Job von UX-Designer:innen ist es, ihnen dieses neue Zusammenspiel zu ermöglichen. Durch „Human-in-the-Loop“-Ansätze werden Anwender:innen zukünftig stärker als „Wächter“ über die Systeme fungieren. Die Absichten von Anwender:innen und der zu generierende Wert spielen zukünftig eine größere Rolle.
„Users will end up playing the role of guardians.”
Jasmeet Sethi
Mixed-Methods in UX Research, Wirkung von UX-Research und Dark Patterns
Tim-Can Werning von METRO.digital brachte die Bedeutung von Mixed-Methods-Ansätzen im UX-Research in einem sehr anschaulichen Beitrag auf den Punkt: Durch die Kombination von qualitativen und quantitativen Daten können UX-Teams genauere und fundiertere Entscheidungen treffen und Stakeholder überzeugen. Das bedingt natürlich, dass UX-Researcher:innen sowohl quantitative als auch qualitative Methoden anwenden können. Er stellte zwei Ansätze zur Erhebung von Anforderungen und zur Erklärung von CSAT-Werten mit einem Mixed-Methods-Ansatz vor. Sein Fazit war, dass sich die Anwendung von Mixed Methods für UX-Research trotz des Aufwandes lohnt, weil dadurch eine genauere Datenbasis für bessere Entscheidungen ensteht.
Frederik Bader von HeidelbergMaterials präsentierte einen Ansatz zur Messung der Wirkung von UX-Research – den „Research Promoter Score“. Sein Ziel war es, die Effektivität von UX-Research im Unternehmen aufzuzeigen. UX-Research soll Teams dabei helfen, bessere Entscheidungen zu treffen und Risiken zu vermeiden. Die wesentliche Wirksamkeit ergibt sich daher unter anderem aus der Qualität der Entscheidungen. Die Messung der Wirksamkeit basiert auf einem Fragebogen zur Bewertung von Empathie, Klarheit, Nützlichkeit und Entscheidungsunterstützung durch einzelne Forschungsstudien. Mit einem Impact Tracker werden die wichtigsten Insights aus den Studien gesammelt und deren Nutzung durch die UX-Researcher:innen nachgehalten. So kann nicht nur die Wirksamkeit von UX-Research nachgewiesen, sondern auch das Stakeholder Management und die Nutzung von Insights verbessert werden.
Barbara Koop sprach in ihrem Vortrag über den bewussten Einsatz von Dark Patterns und psychologischen Prinzipien im Design, die dazu dienen, Awender:innen zu bestimmten Handlungen zu motivieren. Diese Prinzipien – wie Autorität, Knappheit oder Konsistenz – beeinflussen Entscheidungsprozesse und werden oft genutzt, um Kaufentscheidungen zu lenken. Barbara setzte sich kritisch mit der ethischen Verantwortung von Designer:innen auseinander und betonte, dass UX-Design im Gesundheitswesen besonders sensibel ist. Hier ist die Berücksichtigung von emotionalen Zustände der Anwender:innen entscheidend, um Bedienfehler mit ernste Folgen zu vermeiden. Sie forderte mehr Empathie und Verständnis für die Umstände der Anwender:innen, um das Design sicherer und nutzerfreundlicher zu gestalten.
Journey Management, datenbasiertes UX-Research und Qualitätsstandards
Nico Licht (SAP) zeigte in seinem Beitrag u.a., wie SAP Teams dazu befähigt nutzerzentriert zu agieren. Im Kern steht dabei die kontinuierliche Messung von UX mittels SUS und PSAT (Produktzufriedenheit). Diese Daten werden mit Informationen zur Compliance in Bezug auf Barrierefreiheit und Konsistenz in entsprechenden Dashboards angezeigt. Er betonte, dass UXler:innen mit diesen Daten und den Geschichten in den Daten das Unternehmen zu besserer UX führen können.
Tim Scanlon (Rockwell Automation) beleuchtete in seinem Vortrag den Einsatz von Customer Journeys in großen Unternehmen wie Rockwell Automation, um konsistente Kundenerlebnisse trotz global verteilter Teams zu schaffen. Er erklärte, dass der Einsatz von Journey Mapping als zentraler Ansatz für das Customer Experience Management (CX) essenziell ist, um Daten aus verschiedenen Berührungspunkten zu verknüpfen und datengetriebene Entscheidungen zu fördern. Ein standardisiertes Enterprise Journey Management schafft hier eine gemeinsame Sichtweise auf Kundenbedürfnisse und unterstützt die Verknüpfung von CX-Daten über Abteilungen hinweg. Damit dies gelingt ist ein passendes Modell für CX-Daten notwendig. Das ist die Grundlage, dass sich alle Daten integrieren und zusammennutzen lassen. Mit Hilfe eines solchen Journey Managements lassen sich die Zusammenarbeit der Teams verbessern, fragmentierte Erlebnisse vermeiden und CX-Maßnahmen gezielt an Geschäftszielen ausrichten.
Debbie Levitt betonte in ihrem Vortrag, dass eine hohe Fehlerrate bei Produkten oft auf mangelnde Qualitätsstandards und unzureichendes UX-Research zurückzuführen ist. Sie kritisierte das Feiern von „Lernfehlern“ und plädierte dafür, UX mit klaren Qualitätsstandards für Outcomes und Outputs zu verbinden. Levitt stellte fest, dass Unternehmen häufig den Fokus auf Timelines statt auf Produktqualität legen, was langfristig die Kundenzufriedenheit gefährdet. Um Qualität sicherzustellen, sollten Unternehmen UX-Strategien entwickeln, Daten für Monitoring nutzen und Teams mit entsprechenden Ressourcen und Weiterbildungsangeboten unterstützen. Sie fordert eine „Qualität-vor-Zeit“-Mentalität, da Kund:innen keine unfertigen Produkte akzeptieren, sondern Qualität und Wert erwarten.
Stakeholder-Kommunikation und Change-Management
In verschiedenen Vorträgen wurde die Rolle von UX-Manager:innen als Changemaker und die Bedeutung eines effektiven Stakeholder Managements hervorgehoben. Maria Giudice betonte, dass Change by Design auch auf Führungsebene aktiv gestaltet werden muss. In ihrem Beitrag ging sie davon aus, dass jede Veränderung auch eine Designfrage ist und gestaltet werden kann. Sie plädierte dafür, dass sich UX-Manager:innen als Changemaker verstehen. Changemaker treiben Veränderungen in Organisationen aktiv voran, erkennen Herausforderungen und entwickeln Lösungen. Sie organisieren flexible Teams, schaffen Vertrauen durch klare Kommunikation und fördern eine Kultur der Offenheit gegenüber Neuem. Mit kleinen, sichtbaren Erfolgen und gezieltem Kundenfeedback gestalten sie Veränderungen iterativ und nachhaltig. Sie betonte die Bedeutung von Ausdauer und Belastbarkeit für Veränderer. Fehler sind unvermeidbar und tun weh. Changemaker müssen sich die Zeit nehmen, sich von Fehlern zu erholen.
“There is no finish line for changemakers. All that matters is progress.”
Maria Guidice
Helle Jensen und Simone Zunterer betonten die Bedeutung einer klaren Kommunikation, insbesondere mit Stakeholdern, für die Disziplin UX. Sie betonten, dass erfolgreiche Kommunikation mit Stakeholdern auf Klarheit, Anpassung an die Bedürfnisse der Gesprächspartner und Vertrauen basiert. Helle betonte, dass gezielte Kommunikation durch visuelle Darstellung und aktives Zuhören das Vertrauen stärkt und Missverständnisse minimiert. Sie empfahl, den Stakeholdern kleine, greifbare Erfolge aufzuzeigen und auf einfache und einprägsame Weise zu kommunizieren.
Simone ergänzt, dass die Stakeholder oft unterschiedliche Ziele verfolgen, was die Zusammenarbeit erschweren kann. Sie empfiehlt, eine gemeinsame „Sprache“ zu finden und Fakten, Zahlen und Ergebnisse sachlich darzustellen („Talk Business“), um Resonanz zu erzeugen.
Eine besondere Ehre: Zum „UX-Knight“ geschlagen
Ein persönliches Highlight des Kongresses war für mich die Aufnahme in den Kreis der UX-Knights. Ein UX-Knight zu sein bedeutet, sich mit Leidenschaft und Überzeugung für die Zukunft der User Experience einzusetzen.
Ich freue mich total, dass mit dieser Auszeichnung mein bisheriges Engagement für den UX-Berufsstände ausgezeichnet wurde. In diesen angesehenen Kreis so großer Persönlichkeiten aufgenommen worden zu sein, ist eine große Ehre für mich. Damit verbunden ist aber auch das Versprechen, die UX-Branche weiterhin nachhaltig zu unterstützen und Impulse für menschenzentrierte Produktgestaltung sowie menschzentrierte Unternehmen zu setzen.
Vielen Dank
Mein besonderer Dank gilt dem Organisationsteam des World Usability Congress und Hannes Robier für die hervorragende Planung und Durchführung dieser inspirierenden Tage. Man konnte spüren, mit wie viel Aufmerksamkeit und Liebe zum Detail auch diese Konferenz wieder gestaltet wurde.
Auch ein großes Dankeschön an meinen Arbeitgeberin DATEV, die mir die Konferenzteilnahme ermöglicht hat.