World Usability Congress 2021 – Human Experience, Experience Economy, Metriken & Data Science

Oh, wie war das wieder schön. 😊 Eine echte Konferenz mit persönlichen Begegnungen, beeindruckender Location, langen Abenden mit spannenden Diskussionen und Vorträgen mit echten Impulsen. Der World Usability Congress 2021 in Graz war trotz der Begleitumstände großartig. Und, da war dieser Gänsehaut-Moment am Anfang. Als der Speaker Ben Anyasodo mit einer opernreifen Performance die Konferenz eröffnete. Einfach traumhaft. Die Konferenz war von vielen inspirierenden Vorträgen, einer sehr familiären Atmosphäre und der großen Freude, über die wiedererlangte Freiheit geprägt. Das Publikum war zwar COVID-bedingt deutlich kleiner als in den Vorjahren, aber dafür umso kontaktfreudiger. Ein dickes Dankeschön an Hannes Robier und sein Team für den Mut und die Kraft diesen Event trotz der Umstände zu veranstalten.

Und, darum ging es in den drei Tagen:

Human Experience

In vielen Vorträgen war spürbar, dass es in den Unternehmen nicht mehr nur um User Experience geht. Es geht um die Erlebnisse von Kund*innen, Anwender*innen, Mitarbeiter*innen und allen anderen Menschen, die mit Unternehmen interagieren. Es waren häufig Begriffe wie Customer Experience, People Experience, Employee Experience oder User Experience zu hören. Die Sicht auf Experience ist spürbar breiter geworden.

Zwei Vorträge drehten sich um die psychologischen Grundlagen von menschlichen Bedürfnissen und Erwartungen sowie Verhalten.

Martina Mitz stellte in ihrem Vortrag “Behavioural Analysis(verfügbar auf youtube) ein Verfahren zur Erhebung von menschlichen Bedürfnissen auf Basis der Consistency Theory von Klaus Grawe vor. In diesem Verfahren schaut man sich im ersten Schritt an, was eine Person genau tut bzw. wie sie sich verhält. Danach beantwortet man, was die Person damit erreichen oder vermeiden will. Bei diesen beiden Schritten hilft die “Jobs to be done”-Methode. Aus Verhalten und Ziel werden dann mittels Motivational Schemas und Basis-Bedürfnissen die dahinterliegenden Bedürfnisse abgeleitet.

Verena Seibert-Giller zeigt in ihrem Vortrag “How to convince developers and stakeholders to take on psychology” die Notwendigkeit von psychologischen Kompetenzen in Entwicklungsteams auf. Je mehr es um menschliche Erlebnisse geht, umso wichtiger wird es für Entwicklungsteams deren psychologische Grundlagen zu kennen. Verena warb dafür in Entwicklungsteams die Rolle des UX Psychologists zu schaffen, um diese Kompetenzen ins Team zu bringen.

Experience Economy

Lior Arussy konfrontierte die Teilnehmer*innen in seinen Vorträgen “Why does your CEO not care about CX and how to make them CX obsessed” und “Does your customer journey leads to revenues and profits?” mit der knallharten geschäftlichen Realität. Er kritisiert die Methoden-Verliebtheit vieler Experience Professionals und die mangelhafte Kommunikation in Richtung Top-Management.

Methoden, wie z.B. Journey Mapping, werden glorifiziert. Aus seiner Sicht lösen sie oft gar keine echten Probleme des Unternehmens. Journeys werden erstellt und vergessen. Journeys werden zu stark auf die Identifikation von Pain Points ausgerichtet. Das ist oft nicht hilfreich. Zum einen sind die gefundenen Pain Points häufig viel zu klein, um einen Einfluss auf geschäftliche Ergebnisse zu haben.

“Sometimes quick wins are too small to be profitable.“

Lior Arussy

Zum anderen fehlen bei übergreifenden Pain Points häufig die Menschen, die sich für deren Beseitigung verantwortlich fühlen. Egal mit welchen Methoden gearbeitet wird, am Ende muss immer ein positiver Einfluss auf geschäftliche Ziele (z.B. Rentabilität, Loyalität) entstehen. Im Fall von Journeys sieht er den Nutzen vor allem darin, dass sie dem Unternehmen laufend dabei helfen, Transparenz über das eigene Angebot und die Kundenprozesse zu bekommen, die relevanten Herausforderungen bzw. Probleme zu erkennen und sich ständig an deren Verbesserung zu messen.

Journeys are an engine for faster and ongoing change in the organization. It is an tool for creating alignment for change.

Lior Arussy

In Bezug auf die Kommunikation mit dem Management kritisierte Lior, dass viele Experience Professionals versuchen, ihr Management durch das Aufzeigen von Problemen zu “beschämen”. Statt aufzuzeigen, wie beispielsweise eine bessere Differenzierung im Markt erzeugt oder eine höhere Rentabilität erreicht werden kann, werden die Probleme in die Hände des Managements gelegt. Oder schlimmer noch, Experience Professionals versuchen mit unpassenden Beispielen von amerikanischen Unternehmen, die durch Experience Design groß geworden sind, das Management zu überzeugen. Da die Unternehmen nicht vergleichbar sind, ernten sie damit in der Regel nur ungläubiges Kopfschütteln. Stattdessen empfiehlt er aus folgenden Perspektiven zu kommunizieren:

  • Strategie: Welche Vision ist erreichbar? Was ist zu tun? Welchen Beitrag hat das zum unternehmerischen Erfolg? Wie erkennt man das?
  • Finanzen: Was wird finanziell dadurch erreicht? (Höherer Deckungsbeitrag pro Produkt, Mehr Service-Umsatz, Neue Verkäufe, Höherer Gewinn pro Kunde, …)
  • Kultur: Haben wir die richtigen Menschen, um durch Kundenzentrierung erfolgreicher zu werden?
  • Prozess: Welche Policies, Prozesse und Regeln müssen geändert werden? Kann sich das Unternehmen das leisten?
  • Transformation: Wie groß ist die Veränderung? Kann sich das Unternehmen das leisten?
  • Persönlich: Welche Sorgen und Ängste des Management löst es? Welche Ziele des Managements unterstützt es?

Anouk Vastert (SAP) beschäftigte sich in ihrem Beitrag “Hello CX leaders … are you aware your are an Octopus” mit dem Stakeholder-Management. Sie verglich die Rolle von Experience Professionals mit einem Octopus, der seine Arme in jedes Silo eines Unternehmen steckt und so für eine übergreifende Wirkung sorgt. Sie gab Gedankenanstöße für übliche Stakeholder von CX Verantwortlichen:

Anish Joshi (Shell) sprach in seinem Beitrag “Transforming one of the world’s largest companies to lead with design” über die Design Transformation von Shell. Shell muss sich ja aktuell komplett neu erfinden, wenn es zukünftig relevant bleiben will. Er erläuterte welche zentrale Rolle menschzentrierte Gestaltung dabei spielt. Shell sieht menschzentrierte Gestaltung und Menschzentrierung als zentrale strategische Treiber für die Unternehmensziele. (Transformation & Innovation)

Design is not about visual, or function, or digital. It is about creating and capturing business value (tangible and intangible) from adressing what people want and need.

Anish Joshi

In ihrem Vortrag “BX is the new UX: Embracing the Business of Experience” warben Carrie Yury und Martha Cotton (accenture) dafür Experience Design zum “Herzen” von Unternehmen zu machen. Unternehmen sind aus ihrer Sicht in der schnelllebigen Nach-COVID-Welt dann erfolgreich, wenn es ihnen gelingt menschliche Bedürfnisse so zu erfüllen, dass dies einem bestimmten Zweck dient. Sie nennen diesen Denkansatz “Business of Experience”. (Nachzulesen im Accenture-Bericht “Wachstum: Die Experience zählt“)

Metriken & Data Science

Kristin Zibell führte in ihrem Vortrag “Show business results with the right metrics” in die Nutzung von UX Metriken ein. Sie plädierte dafür UX Metriken immer in Verbindung mit Unternehmenszielen zu betrachten. UX Metriken sollen zeigen, welchen Fortschritt das Unternehmen macht, um durch gutes Experience Design erfolgreicher zu sein. UX Metriken sind ein gutes Instrument, mit dem man UX Aktivitäten auf die relevanten Ergebnisse für eine Verbesserung des Experience Designs fokussieren kann. Sie empfiehlt eine Mischung von internen und externen Metriken zu verwenden. Diese sollten über den gesamten Entwicklungsprozess bis zum Betrieb im Markt erhoben werden.

Sehr spannend fand ich den Vortrag “Make it count – Measuring UX in Healthcare” von Barbara Koop (Philips Experience Design). Sie stellte das DiX-Modell (Deliberate Impact on Experience) vor. Dieses nutzt Philips, um die Erreichung der unternehmenseigenen Transformationsziele: “Bessere Resultate für Patient*innen”; “bessere Erlebnisse der Patient*innen”; “bessere Erlebnisse der Mitarbeiter*innen” und “Kostensenkung” zu erreichen.

Das Modell besteht aus:

  • dem Ergebnis (Experience)
  • den Menschen, die diese Erlebnis haben (People)
  • den Aspekten, die das Erlebnis verbessern (UX Driver)
  • den Touchpoints, an denen das Erlebnis entsteht (Touchpoint)
  • den Veränderungen, die notwendig sind (Changes)
  • den Datensammlungen, die die Daten dafür liefern (Data source)
  • und den Datenpunkten, an denen diese Daten erhoben werden. (data point)

Dieses Modell nutzt Philips beispielsweise dazu, um die Phasen in der Journey der Anwender*innen zu ermitteln, in denen sich Innovationen lohnen. Konkret funktioniert das dann so, dass Nutzungsmetriken (z.B. Zeit zwischen Scans, Vorbereitungszeit, Zeit für Nachbearbeitung) sowie eine Zufriedenheitsmetrik (z.B. SUS) erhoben werden. Mittels Treiberanalysen wird dann vorhergesagt, welches Nutzungsverhalten den größten Einfluss auf Zufriedenheit hat. Das Nutzungsverhalten mit der höchsten Vorhersagekraft und der schlechtesten Zufriedenheit, ist dann der Fokus für Innovationen. Dieses Vorgehen setzt voraus, dass es einen guten Zugang zu den quantitativen Daten gibt und das UX Team über zusätzliche Kompetenzen aus dem Bereich Data Science verfügt.

Data Science ist ein gutes Stichwort: Jonas Rende und ich haben in unserem Vortrag “Using Customer Expectations to Drive Experience and Success” darüber gesprochen, wie man menschliche Erwartungen und Data Science zur Verbesserung der Experience und zur Unterstützung einer lernenden Organisation nutzen kann. Wir sind davon überzeugt, dass es Unternehmen in den kommenden Jahren nur dann gelingen wird, erfolgreich zu bleiben, wenn sie in Echtzeit die Veränderungen von menschlichen Bedürfnissen und Erwartungen erkennen und sich darauf anpassen können. Das wiederum setzt voraus, dass UX Research deutlich schneller und automatisierter wird. Neben umfangreichen Data Science-Kompetenzen wird eine Experience Architecture benötigt, die Unternehmen mit den dafür nötigen Technologien und Datenflüssen ausstattet. Weitere Herausforderungen dabei sind die rechtlichen Rahmenbedingungen und die immense Rechenpower (GPU-Cluster). In unserem Beitrag haben wir konkreten Ansätze und Vorgehensweisen vorgestellt, die wir bei DATEV nutzen, um diese Herausforderungen zu meistern.

Data Science becomes a major driver of corporate success, if you overcome the challenges.

Jonas Rende

Handwerkszeug

Zum Handwerkszeug von Experience Professionals sind mir zwei Vorträge in Erinnerung geblieben. Zum einen der Vortrag von Jan Kiekeben zu “Design Critique – How to level up your design process“. Darin beschrieb er die Art und Weise, wie bei XING Designkritik im Designprozess genutzt wird, um die Qualität der Produktgestaltung zu verbessern. Designkritik-Sessions werden bei XING wöchentlich veranstaltet. Sie dauern ca. 30 min. Die Sessions finden immer in der gleichen Gruppe statt und werden moderiert. Inhaltlich drehen sie sich um Fragen wie:

  • Was ist das Ziel des Designs?
  • Welche Elemente des Designs tragen zur Erreichung des Ziels bei?
  • Warum oder warum nicht?

Designkritik-Sessions dienen nur der Verbesserung des Designs. Es werden keine Entwürfe erstellt oder Designentscheidungen getroffen. Damit Designkritik-Sessions gelingen, stellte er folgende Best Practices vor:

(Mehr zum Thema “Designkritik” findest Du in diesem Beitrag.)

Zum anderen ist mir der Vortrag von Rob Manzano (Zalando) zur Jobrolle User Research im Gedächtnis geblieben. Er warb in seinem Vortrag “A job for experts – not everyone can do user research” dafür UX Research nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Auch wenn einige Anbieter von UX Research-Tools behaupten, dass jeder Mensch im Unternehmen mit ihren Tools User Research machen kann, bleibt UX Research eine Experten-Disziplin, die bestimmte Talente, Kompetenzen und viel Übung voraussetzt.

Er warb für mehr Professionalität im UX Research und für mehr Achtung vor der Jobrolle UX Researcher*in. Er verglich UX Researcher*innen mit Köchen. Jeder meint zwar kochen zu können, aber wenn es gut werden soll, dann geht es nicht ohne entsprechende Expertenfähigkeiten.

Fazit

Ich hoffe, dass ich Dir einen kleinen inhaltlichen Überblick über den World Usability Congress 2021 geben konnte. Für mich haben sich die vier Tage inkl. Anreise echt gelohnt. Ich komme gern wieder. Oder, um es mit den Worten von Johannes Lehner und der Bühnenperformance von Ben Anyasodo zu sagen:

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