UX Reifegrad steigern – von 1 auf 5 in 100 Tagen #gUXFestival

Der Titel für meine BarCamp-Session auf dem UX-Festival der German UPA in Erfurt ist mir dann wohl doch ein bisschen zu reißerisch geraten. Ich war sehr überrascht, wie groß das Interesse am Workshop war. Eigentlich wollte ich die Fishbowl-Format “Usability & UX in Unternehmen erfolgreich einführen” von der Mensch & Computer 2013 wiederholen. Damals hatten wir in einer überschaubaren Runde von ca. 20 UX Professionals eine 10-Punkte-Liste für die erfolgreiche Einführung von UX erarbeitet. Diese Liste wollte ich diskutieren und aktualisieren.

Zum Glück hat sich das dann doch nicht so ergeben. Durch die große Anzahl an UX Professionals und die vielen unterschiedlichen Erfahrungen, konnten wir nämlich eine breite Sammlung von Best Practices erstellen, mit denen sich die UX-Reife in 100 Tagen verbessern lässt. Diese Sammlung habe wir dann in der Session von Julian “Firma offen für UX – wie fange ich an” in eine Reihenfolge gebracht.

Quelle: German UPA

Bevor ich in die Ergebnisse eintauche, noch ein Hinweis zur Zusammensetzung der Gruppe. Ungefähr 60% der Teilnehmer:innen arbeiten bei einem UX-Dienstleistungsunternehmen und ca. 40% arbeiten an der UX der unternehmenseigenen Produkte.

4 Schritte, um UX in 100 Tagen ein gutes Stück voranzubringen

Beginnen wir mit dem Ergebnis aus Julians Session. Hier haben wir 4 Schritte herausgearbeitet, die Du gehen kannst, wenn Du in Deinem Unternehmen der / die erste UX Professional bist oder Dein Unternehmen bei UX noch ganz am Anfang steht.

1. Schritt – Fang einfach an

Der Erfolg im ersten Schritt basiert im Wesentlichen auf Deinem persönlichen Engagement und Deiner Eigeninitiative. Entwickle Deinen eigenen Standpunkt zu User Experience: Wofür willst Du als UX Professional in Deinem Unternehmen stehen? Was kannst Du mit UX-Methoden und -Vorgehensweisen zum Erfolg des Unternehmens beitragen? Welches Angebot kannst und willst Du als UX Professional Deinem Unternehmen machen?

Wenn Du das weißt, dann beginne damit Eure Produkte und Dienstleistungen zu nutzen. Erlebe wie es ist, Euer:e Kund:in oder Anwender:in zu sein. Lade Kolleg:innen ein, es Dir gleich zu tun – getreu dem Motto “Eat your own dogfood”. Teile Deine Erfahrungen und Erlebnisse möglichst anschaulich im Unternehmen. Auf diese Weise findest Du erste kleine Beispiele an denen Du zeigen kannst, was Du als UX Professional beitragen kannst. Hierbei ist wichtig, dass Du nicht nach Erlaubnis fragst, sondern einfach machst.

Wenn Du ein erste kleine positive Beispiel für gute UX geschaffen hast, dann geht es darum den Erklärbär zu geben. Erkläre anhand Deines Beispiels UX und UX-Methoden. Sei dabei für alle Fragen offen. Gehe stets wertschätzend mit dem Feedback anderer Kolleg:innen um und nimm Bedenken ernst. Du kannst das praxisnahe Erklären dadurch verstärken, dass Du Dir UX Professionals aus anderen Unternehmen einlädst und sie auf Deinem ersten internen UX-Meetup über ihre Arbeit berichten lässt.

2. Schritt – Freund:innen & Unterstützer:innen finden

Mit Deinen positiven Beispielen und der ersten Aufmerksamkeit im Rücken, geht es im zweiten Schritt darum zu Netzwerken. Du musst Fürsprecher:innen, Verbündete und Mitstreiter:innen finden. Die solltest Dir Allianzen mit Kolleg:innen aus verschiedenen Bereichen im Unternehmen aufbauen, die Dir bei der Erreichung Deiner UX-Ziele helfen.

Fündig wirst Du bei Kolleg:innen, die sich um ähnliche Herausforderungen kümmern oder ähnliche Ziele haben. Wenn Du in einem Dienstleistungsunternehmen arbeitest, dann sollte der Vertrieb Deine erste Anlaufstelle sein. UX sollte in Pitches oder Angeboten enthalten sein. Wenn Du dich in Deinem Unternehmen um die UX der eigenen Produkte kümmerst, dann sind die (agilen) Entwicklungsteams eine wichtige erste Anlaufstelle.

3. Schritt – Das erstes Projekt oder UX-Experiment durchführen

Im dritten Schritt wird es ernst. Es geht nun darum das erste große Projekt oder Vorhaben zu finden, in dem Du als UX Professional wirken kannst. Am besten suchst Du Dir dafür ein Projekt aus, welches für Dein Unternehmen von hoher (strategischer) Bedeutung ist oder auf dass sich die Aufmerksamkeit des Managements richtet. Für Deine Arbeit wirst Du Budget und Zeit benötigen, die Du Dir ggf. vorher entscheiden lassen musst.

In Deinem ersten Projekt ist es nicht erforderlich, dass alle UX-Methoden nach Lehrbuch laufen oder Du sofort den Idealweg findest. Finde einen praktikablen Weg User Feedback möglichst schnell und einfach ins Projekt zu bringen. Du kannst die Professionalität der UX-Methoden dann später Schritt für Schritt steigern. Du überzeugst in dieser Phase mit den Ergebnissen Deiner UX- bzw. Design-Arbeit und nicht mit der Perfektion der Methoden. Du solltest bereit sein eine extra Meile zu gehen, um Begeisterung zu erzeugen. Beispielsweise kann es helfen, dass Du am Ende anschauliche High-Fidelity Prototypen erstellst, auch wenn es vielleicht Wireframes getan hätten.

Hilfreich ist es auch immer wieder aus Sicht der Nutzer:innen nachzufragen: Wer sind die Nutzer:innen? Welchen Nutzen hat eine Anforderung für die Nutzer:innen? Welches Problem wollen wir für unsere Nutzer:innen lösen?

UX- oder Usability-Tests solltest Du in dieser Phase auch als Werbeveranstaltungen nutzen. Lade so viele Kolleg:innen wir möglich als Beobachter:innnen zu den UX-Tests und Interviews ein.

4. Schritt – Erfolgsgeschichte erzählen

Nachdem Du nun richtig was zu erzählen hast, solltest Du auf große Werbetour im Unternehmen gehen. Hierbei solltest Du zeigen, was beim menschzentrierten Vorgehen herausgekommen ist und wie ihr dahin gekommen seid. Erzähle die Geschichte dabei möglichst praxisnah und verzichte auf zu tiefe methodische Details. Je konkreter und allgemeinverständlicher umso besser.

Am besten ist es dabei, wenn Du die Geschichte nicht selbst erzählst, sondern Kolleg:innen aus anderen Jobrollen den Vortritt lässt. Deine Erfolgsgeschichte solltest Du in möglichst allen Hierarchieebenen und in möglichst vielen Bereichen erzählen.

Schritte für Fortgeschrittene

Soweit zu den ersten Schritten für Einsteiger. Nachdem im Workshop auch viele sehr erfahrene UX Professionals teilgenommen haben, haben wir auch einige Anregungen für fortgeschrittene UX Professionals bzw. für Unternehmen mit fortgeschrittener UX-Reife gesammelt. Ich habe die verschiedenen Anregungen wie folgt zusammengefasst:

UX-Reifegrad

  • UX-Reifegradmodelle ansehen und geeignete Best Practices für Dein Unternehmen ableiten
  • UX-Reifegrad analysieren und Maßnahmen ableiten

UX-Strategie

  • Status Quo analysieren (möglichst mit Daten) und den IST-Zustand verstehen. Warum werden die Dinge aktuell so gemacht, wie sie gemacht werden?
  • Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse analysieren und prüfen, wo UX eingebunden bzw. verankert werden sollte.
  • Vision und gemeinsame Ausrichtung mit Stakeholdern entwickeln, SOLL-Zustand definieren
  • Verankerung in Unternehmensstrategie

Stakeholder-Management

  • Bedürfnisse des Managements identifizieren und deren Ziele bzw. Bedenken adressieren
  • Sprache des Managements lernen und UX-Sprache übersetzen
  • Das “Warum” für mehr UX anhand der geschäftliche Ziele und Herausforderungen aufzeigen
  • Neue Personen im Management sofort ins Boot holen
  • Schnittstellen zu anderen Strategien im Unternehmen suchen
  • Kompromisse mit Stakeholder finden
  • UX im Vertrieb platzieren
  • Viel Austausch mit Rollen wie KeyAccount-Manager:innen, Projektleiter:innen, Produktmanager:innen und Business Analysten.

Transparenz schaffen

  • Customer Journey Mapping-Workshop durchführen, um UX-Probleme aufzuzeigen und Betroffenheit zu erzeugen
  • User Feedback und Zufriedenheit der Kund:innen im Unternehmen sichtbar und transparent machen
  • Sichtbar machen, wie gut das Unternehmen UX kann

UX-Community

  • UXler:innen im Unternehmen zusammenbringen und gemeinsam auftreten
  • UX-Enthusiasten fördern
  • Aufbau einer Community zur gegenseitigen Stärkung und zum regelmäßiger Austausch mit UX-Kolleg:innen

Kommunikation

  • Bewusstsein für UX anhand von konkreten positiven und negativen Beispielen stärken
  • UX immer wieder thematisieren, insbesondere in den oberen Managementetagen (z.B. Newsletter, Showroom)
  • Konkreten geschäftlichen Wert von UX für das Unternehmen thematisieren
  • UX-Sprechstunde in der Firma anbieten
  • Interne Vorträge zu erfolgreichen Projekten (Fallstudien)
  • Erfolgsgeschichten mit Kund:innen publizieren und präsentieren
  • Zwischenergebnisse von UX-Methoden erlebbar machen
  • Bewusstsein für Kunden und deren Bedürfnisse mit User Feedback Days oder “öffentlichen” Usability Tests stärken

Wissensvermittlung

  • Einstiegsschulungen zu “Warum brauchen wir UX?”
  • UX-Grundlagenschulungen für Kolleg:innen über Teams und Bereiche hinweg
  • UX-Kompetenz im Management ausbauen
  • UX-Themen auf internen Barcamps vorstellen

Standards

  • HCD Prozess (9241-220)
  • Normenkeule schwingen (25010)

Teamorganisation

  • Interdisziplinäre Teams, in die UXler:innen integriert sind
  • Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den Rollen im Team stärken (Dev, RE, PO, UX, …)
  • UX-Bedarfe sichtbar machen und einfordern
  • UX-Team aufbauen
  • Entwicklungsteams nehmen geschlossen an UX Tests teil und werten mit aus

Metriken

  • UX mit ökonomisch messbaren KPIs ausstatten
  • Zusammenhänge zwischen UX-Maßnahmen und Umsätzen messen
  • Zahlen für Führungskräfte, die zeigen, was UX-seitig passiert und was es bewirkt

Employee Experience

  • UX-Methoden auf interne Werkzeuge und Prozesse anwenden
  • Pain Points von Kolleg:innen identifizieren und durch menschzentrierte Vorgehensweise lösen
  • Das Nutzungserlebnis der Mitarbeiter:innen verbessern, damit sie selbst bessere Erlebnisse schaffen können.

UX Research

  • UX Methoden sammeln und für Kolleg:innnen einfach nutzbar machen
  • Proaktive Nutzerbefragung und z.B. PO/DEV/RE einladen
  • Regelmäßige Evaluation und Verbesserung der UX-Methoden
  • Agiles Testing

Zusammenarbeit mit Vertrieb

  • UX Leistungskatalog erstellen und bei Vertrieb dafür werben
  • Beziehungspflege von UX mit Vertrieb, KAM und verwandte Rollen

Und zu guter Letzt …

  • … könntest Du auch dafür werben, einen Head of UX einzustellen

Vielen Dank

An dieser Stelle möchte ich mich für den umfangreichen Input in der BarCamp-Session auf dem UX Festival bedanken 👍 Da ist richtig was zusammen gekommen. Vielen Dank, dass Ihr dabei gewesen seid und Eure Erfahrungen eingebracht habt.

War dieser Artikel hilfreich für Dich?

Kommentar verfassen

Nach oben scrollen