Am ersten Tag der Mensch und Computer habe ich mir Vorträge zu Mixed Reality, Menschzentrierung, UX-Organisation, Research Repositories, Journey Management und Konsistenz. Die Zusammenfassung dieser Beiträge findest Du hier:
Immersive Competence and Immersive Literacy: Designing for Accessibility and Engagement in Mixed Reality
Anthony Steed eröffnete die MuC 2023 mit seiner Keynote zu den größten Herausforderungen bei der Etablierung von Virtual-, Augmented- und Mixed Reality-Anwendungen. Die Herausforderungen sind: Usability, Displays, Haptik, Selbstwahrnehmung, soziale Interaktionen und fehlende Standards für die Interaktion.
Usability
VR-Geräte sind leichter, leistungsfähiger und billiger geworden. Das hat sich vor allem auf die Möglichkeiten in der Forschung ausgewirkt. Im Alltag sind Virtual, Augmented bzw. Mixed Reality noch nicht angekommen. Die meisten Geräte haben nach wie vor Usability-Probleme, die deren Verbreitung verhindern.
Displays
Die Displays sind viel besser geworden, aber nicht so viel besser, wie es für eine reale Anmutung notwendig wäre. Beispielsweise passen die Farben passen häufig immer noch nicht, die Auflösung ist zu gering und der Blickwinkel ist nicht breit genug.
Haptik
Die heutigen VR-Geräte können nur mit hohem technischem Aufwand und sehr eingeschränkt den Eindruck von Haptik erzeugen. Beispielsweise werden dazu im wissenschaftlichen Bereich flexible Oberflächen genutzt, die ihre Form an die digitale Darstellung anpassen können.
Selbst-Wahrnehmung
Damit Menschen eine VR-, AR- oder MR-Visualisierung als real erleben können, müssen sie sich selbst sehen können. In VR-Umgebungen sollten sie sich selbst in Form eines eigenen „digitalen“ Körpers sehen und diesen nutzen können. Er nennt das Body-Ownership-Illusion. Das liegt insbesondere daran, dass Menschen ihre Hände nutzen, um sich bestimmte Sachen besser vorstellen, merken oder gedanklich erschließen zu können.
Soziale Interaktionen
Menschen nutzen Körpersprache in der sozialen Interaktion. Beispielsweise wird der Körper genutzt, um Informationen zu verbergen. VR-Systeme sollten dieses Verhalten unterstützen.
Fehlende Standards für Bedienung
Die Anzahlen von VR-, AR- und MR-Anwendungen nimmt explosionsartig zu. Allerdings haben sich nur wenige konsistente Standards für die Bedienung solcher Anwendungen durchgesetzt. Es werden immer wieder bekannte Fehler bei der Gestaltung solcher Anwendungen gemacht.
Menschzentrierung vs. Nutzerzentrierung
Eilika Freund von bluprnt hat auf dem Barcamp der MuC eine Session angeboten, in der wir die Begriffe „Nutzerzentrierung“ und „Menschzentrierung“ auseinandergenommen haben. Auslöser der Diskussion war bei Bluprnt die Frage: „Wie müssen wir Menschzentrierung nennen, damit es unsere Kund:innen verstehen?“
Es gibt bei der Verwendung der Begriffe in der Praxis immer mal wieder Unsicherheiten, was damit konkret gemeint ist und welcher Begriff der Richtige ist.
Das könnte zum einen daran liegen, dass sich in der Praxis das Beschäftigungsfeld der UX-Professionals ausgeweitet hat. Es geht nicht mehr nur um die Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen für Anwender:innen. Zum anderen könnte es aber auch einfach nur an der Übersetzung des Begriffs „Human Centered Design“ liegen.
Erkenntnisse aus der Diskussion
- Am besten nutzt man im Unternehmen den Begriff, der von den Kolleg:innen verstanden wird. Eine Begriffsklärung und -definition im Unternehmen ist hilfreich, sollte aber nicht in eine philosophische Diskussion ausarten.
- Man kann den Begriff „Menschzentrierung“ nutzen, um das breiter werdende Handlungsfeld für die Gestaltung menschlicher Erlebnisse besser zu erklären.
- Um das Problem zu umgehen, kann es hilfreich sein, die originalen englischen Begriffe zu verwenden. Das birgt aber die Gefahr, dass deutschsprachige Menschen, diese je nach Sprachkenntnissen sehr unterschiedlich auslegen.
- Menschzentrierung ist nicht mehr als Nutzerzentrierung. Wir gestalten Erlebnisse von Menschen und lernen aus deren Interaktion mit dem Unternehmen. Welche Rolle diese Menschen haben, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Employee Experience, Customer Experience und User Experience sind gleichgewichtet, wenn es darum geht ein Unternehmen dadurch erfolgreicher zu machen.
- Es ist hilfreich ein gemeinsames Vokabular für UX-Professionals im Unternehmen anzustreben. Dazu kann man beispielsweise die CPUX-F-Schulung aus Ausgangsbasis nutzen. Diese mischt sich dann mit den Begriffsverständnissen der Menschen im Unternehmen. Am Ende entsteht ein Vokabular, was zwar nicht gleich ist, aber zumindest einen gemeinsamen Kern hat.
Dos & Don‘ts für die wirksame Organisation von UX
Ich habe einen Workshop veranstaltet, um die Dos und Don’ts für die wirksame Organisation von UX in Unternehmen herauszuarbeiten. Wir haben in 4 Gruppen folgende Erkenntnisse herausgearbeitet:
Dos:
- Es sollte vermieden werden, dass UX-Professionals als Einzelkämpfer:innen im Unternehmen unterwegs sind.
- Eine UX-Community schaffen, die Austausch und die operative Zusammenarbeit von UX-Professionals fördert.
- Die Geschäftsleitung für die Etablierung von UX gewinnen.
- Engen und regelmäßigen Kontakt zwischen Anwender:innen und Mitarbeitenden organisieren.
- UX-Professionals unterstützen sich gegenseitig in Reviews durch kollegiale Beratung.
- UX-Professionals sollten früh in die Entwicklungsprozesse einbezogen werden.
- UX-Strategie und UX-Management sollten in einer zentralen Einheit organisiert werden.
- UXler:innen sollten operativ in den Entwicklungsteams arbeiten.
- In agilen Umfeldern ist die Etablierung von Lead-Teams sinnvoll, die aus PO, Tech-Lead und UX-Lead bestehen.
- Die Vorgehensweisen der menschzentrierten Entwicklung in einem UX-Playbook veröffentlichen, welches Mitarbeitenden zeigt, wie wie im Unternehmen menschzentriert gearbeitet werden soll.
- Die User Experience von Produkten vor einer Freigabe im Quality-Gate prüfen und auf dieser Basis über Freigabe entscheiden.
- Ein starkes Netzwerk an UX-Dienstleistern aufbauen.
- Den Austausch zu UX im Unternehmen zentral organisieren.
- Mentoring für UX-Professionals anbieten.
- Zentrale Weiterbildungsangebote für UX im Unternehmen entwickeln und anbieten.
- Verantwortlichkeiten von UX-Rollen im Unternehmen klären.
Don’ts
- Als UX-Professional nur die Durchführung von UX-Methoden anbieten und UX nicht in den Prozesse des Unternehmen verankern.
- UX-Professionals ohne fachliche Führung im Unternehmen arbeiten lassen.
- UX-Professionals werden durch Führungskräfte geführt, die keine Kenntnisse und Verständnis von UX haben.
- UX-Professionals übernehmen so viel operative Arbeit und Projekte, dass kein Austausch mehr möglich ist.
- UX-Professionals verfügen nicht oder zu wenig über konkretes Fachwissen zu dem Projekt / Produkt für das sie arbeiten.
- UX-Professionals technischen Einheiten oder dem DevOps-Team zugeordnen.
- Ohne UX-Vision oder klares Ziel an der Gestaltung von Produkten arbeiten
- UXler:innen ohne Onboarding oder Unterstützung in Bestandsteams hineinwerfen, die schon lange zusammenarbeiten.
- UXler:innen intern wie eine Agentur organisieren.
- UXler:innen ohne klare Verantwortlichkeiten, Aufgaben und Entscheidungskompetenzen arbeiten lassen.
- Junior UX-Professionals einstellen und direkt ins kalte Wasser schmeißen.
Research Repositories
In der Session von Holger Fischer (atruvia) diskutierten wir über die Anforderungen an Research Repositories sowie Best Practices für deren Etablierung und Nutzung.
Erfahrungen mit Research Repositories
- Es gibt viele Research-Erkenntnisse im Unternehmen, die zwar vorhanden sind, aber nicht genutzt werden.
- Gemeinsamer Zugriff auf UXR-Erkenntnisse im Unternehmen ist sinnvoll. Erkenntnisse aus UX-Research sollten nicht von einzelnen Einheiten geheim gehalten werden.
- Es muss klare Regeln für den Einsatz von Research Repositories geben.
- Sie werden praktisch nicht so genutzt, wie es sinnvoll wäre. Sie sind mit einem hohen Pflegeaufwand verbunden.
- Fang mit dem an, was da ist und schaue, was im Unternehmen tatsächlich gebraucht wird. Wichtiger als ein cooles Tool, ist die Nutzungsakzeptanz im Unternehmen.
Anforderungen an Research Repositories
- Welchen Nutzen will das Unternehmen durch das Research Repository erreichen? (z.B. Transparenz über die Erkenntnisse herstellen und Erkenntnisse unternehmensübergreifend bereitstellen, Controlling-Unterstützung, Verbesserung der Nutzung von Erkenntnissen, Demokratisierung von User Research)
- In welche Prozesse müssen Research Repositories integriert werden?
- Zu welchen Systemen muss es Datenverbindungen geben, damit die Erkenntnisse in die Nutzung kommen?
- Wer soll die Erkenntnisse nutzen? (Zielgruppe)
- Einfaches Kategorisieren und Verschlagworten von Research-Erkenntnissen
Einführung von Research Repositories
- Wenn viele Menschen im Unternehmen Research durchführen, sind Trainings und eine Guidelines für die Dokumentation von Erkenntnissen in Research Repositories notwendig. Außerdem sollte es ein zentrales ResearchOps-Team oder -Personen geben, die sich um die Datenqualität im Repository kümmern.
- Es ist gut bei der Einführung mit denen zu starten, die den größten Nutzen aus der Nutzung von Erkenntnissen aus Research haben. Erst später, wenn es sich bewährt hat, sollten andere Nutzungsgruppen für das Research Repository erschloßen werden.
- Grundlegende Regeln zur Dokumentation sollten verbindlich verankert werden.
Journey Management – Aktive Nutzung von Erkenntnissen aus Journeys
Ich habe in meinem Beitrag einen Überblick über Journey Management bei DATEV gegeben.
Bei DATEV begann die Etablierung von Customer und User Journeys mit dem klassischen Ansatz des Journey Mappings. Dies war Teil der agilen Transformation, bei der die Selbstorganisation und Eigenverantwortung der Teams gestärkt werden sollte. Jedes Entwicklungsteam ist für die Erfüllung der Kundenbedürfnisse in ihren Produkten eigenverantwortlich. Damit sie das effektiv erreichen können, benötigten sie eine klare Visualisierung dessen, was zu ihrer Eigenverantwortung gehört.
Wir haben bei DATEV dann schnell gelernt, dass die klassischen Ansätze des Journey Mappings allein nicht skalierfähig sind. Insbesondere dann nicht, wenn diesen Ansatz über sehr viele Teams „ausrollen“ möchte. In Zusammenarbeit mit Forrester haben wir eine skalierfähige Struktur für Journeys entwickelt. Ein Schlüsselelement dieser Struktur sind die sogenannten Journey Atlanten. Anstatt von den Produkten auszugehen, steht bei Journey Atlanten die Zielgruppe und deren Lebenszyklus im Mittelpunkt. Diese Atlanten umfassen sowohl übergreifende User Journeys als auch produktspezifische User Journeys.
Mittlerweile hat sich aus diesen Anfängen ein komplettes Journey Framework entwickelt. Das trägt dazu bei, dass die Entwicklungsteams nicht nur in ihren Produkten, sondern auch produktübergreifend in Journeys denken. Dieses Framework besteht aus den folgenden Elementen:
- Journey Atlas: Inhaltsverzeichnis aller Journeys in einem Zielmarkt; unterstützt bei der Priorisierung von Journeys und visualisiert deren Verbindung untereinander
- Customer & User Journeys: Visualisieren die „Reise“ der Kund:innen über alle Kontaktphasen, Identifizierung wichtiger Punkte (key moments) sowie Kundenerwartungen
- Kontaktpunkt-Übersicht: An wichtigen Kontaktpunkten messen wir kontinuierlich, inwieweit die Erwartungen erfüllt werden, um frühzeitig Handlungsbedarfe identifizieren zu können
- Journey Metriken & Dashboards: Zeigen auf, was in den Journeys passiert, wie die Erlebnisse wahrgenommen werden, was das Ergebnis ist und wo Handlungsbedarf besteht
- Journey Manager:innen: Sorgen für die nötige Abdeckung mit Journeys und leiten aktiv Erkenntnisse aus den Journeys ab, Bauen Brücken zwischen Organisationseinheiten
- Governance für Journeys: Verbindliche Regeln zu Einsatz und Nutzung von Journeys, Integration in Entscheidungs-, Entwicklungs- und Planungsprozesse
- Technische Infrastruktur: Werkzeuge, Sensorik, Datenströme & Templates, die das Arbeiten mit Journeys unterstützen
Ein wichtiger Aspekt des Journey Managements bei DATEV ist die kontinuierliche Messung des Kundenerlebnisses an den Kundenkontaktpunkten. DATEV unterscheidet zwischen Interaktionsmetriken, Wahrnehmungsmetriken und Ergebnismetriken, um ein umfassendes Bild des Kundenerlebnisses zu erhalten.
- Interaktionsmetriken: Erfassen, was während des Kundenerlebnisses passiert, wie Nutzungshäufigkeiten und Fehler.
- Wahrnehmungsmetriken: Messen, wie Kunden das Erlebnis wahrnehmen, einschließlich Kundenzufriedenheit oder Erfüllung von Erwartungen.
- Ergebnismetriken: Verfolgen, was Kunden als Ergebnis des Erlebnisses tun, wie Weiterempfehlungen, Serviceanrufe und der Kauf weiterer Produkte
Bei DATEV haben wir erkannt, dass die Messung der Kundenzufriedenheit alle 12 Monate viel zu langsam ist. Wir setzen auf ein System namens Touchpoint-Measurement & Analytics, um nahezu in Echtzeit die Qualität von Kundenerlebnissen analysieren und darauf reagieren zu können. Dies ermöglicht es den Teams, die Kunden-Kontaktpunkte und Produkte kontinuierlich zu verbessern.
Die wichtigsten Lehren aus unserem Weg sind:
- Mit einfachem Journey Mapping beginnen und Erfahrungen sammeln.
- Die Struktur der Journeys von Anfang an berücksichtigen.
- Die Rolle der “Journey Manager:innen” als Schlüssel zur organisatorischen Verankerung erkennen.
- Effektives Journey Management erfordert gute technische und datenbezogene Fähigkeiten.
Konsistenz im UX-Design
Daniel Beckert und Martin Groß (DATEV) haben auf dem Barcamp eine Diskussion rund um die Konsistenz im UX-Design angeboten. Konkret ging es dabei um die Frage was Konsistenz im UX-Design bedeutet? Zusammengefasst habe ich folgende Erkenntnisse aus der Diskussion mitgenommen:
Konsistente Gestaltung befasst sich mit der ähnliche Gestaltung von Bedienoberflächen, die
- in einem Prozess,
- in unterschiedlichen Prozessen einer Zielgruppe oder
- innerhalb einer Anwendung auftauchen.
Konsistenz umfasst ähnliches Verhalten, ähnliche Beschreibung, ähnliche Abläufe und ähnliches visuelles Auftreten für ähnliche Bedienabläufe. Die Leitfrage für Konsistenz ist: „Wie muss es gestaltet sein, damit Menschen Dinge wiedererkennen und ihr bestehendes Wissen erfolgreich darauf anwenden können?“.
Im B2B-Bereich spielt Konsistenz eine besondere Rolle. Inkonsistenzen erzeugen hier auf Seite der Anwender:innen einen Mehraufwand bei der Bedienung und verursachen Bedienfehler, die deren Effizienz behindern. Die laufende Umstellung zwischen inkonsistenten Produkten bedeutet für Anwender:innen eine mentale Belastung. Im B2C-Bereich gibt es größere Spielräume in Bezug auf eine konsistente Produktgestaltung.
Konsistenz zum Selbstzweck ist nicht gut. Wenn man zu sehr auf Konsistenz beharrt, kommen Weiterentwicklung und Fortschritt unter Umständen zum Erliegen. (Siehe https://www.user-experience-blog.de/2022/01/eine-konsistente-gestaltung-ist-ein-zweischneidiges-schwert-bis-zu-welchen-punkt-konsistenz-nuetzt-und-ab-wann-sie-toxisch-wird/)
„In Konsistenz sterben ist auch tot.“
Es ist in Ordnung Inkonsistenzen bewusst zu zulassen, um spezielle Anforderungen abzudecken oder eine gewisse Geschwindigkeit in der Weiterentwicklung zu erreichen. Man muss gut abwägen, wie viel Konsistenz sinnvoll und nötig ist.
Konsistenz spielt auch bei der Markteinführung von Nachfolgeprodukten eine Rolle. Produkte oder Produktversionen, die eine gewisse Konsistenz zum Vorgängerprodukt aufweisen, helfen Bestandsanwendern auf die neue Version zu wechseln.
Instrumente für die Erzeugung von Konsistenz sind Styleguides, Designsysteme, Abstimmungen zwischen den Entwicklungsteams sowie Austauschformate für UX-Designer:innen.
Das war Tag 1 🙂 … so ging es weiter:
- Mensch und Computer 2023 Tag 2 – Teammanagement, UX & KI, Accessibility, Jobs to be done, UX-Führungskomptenzen, Ecosystem Journeys und UX-Organisation
- Mensch und Computer 2023 Tag 3 – UX-Organisation, Cartooneering und Beziehungsdesign