Das Missverständnis von Paretoprinzip, MVP und den goldenen Wasserhähnen

Das Paretoprinzip, auch bekannt als 80/20-Regel, ist eine wesentliche Grundregel der Softwareentwicklung. Das Prinzip beschreibt, “dass 80% der Ergebnisse mit 20% des Gesamtaufwandes erreicht werden.” (Siehe Wikipedia “Paretoprinzip”). Mir ist das Prinzip häufig in Diskussionen über die Fokussierung von Entwicklungsteams begegnet. Also immer dann, wenn es darum ging zu entscheiden, was getan bzw. nicht getan werden soll. Mit diesem Prinzip soll nach meinem Verständnis vor allem dem spielerischen Drang von Entwicklungsteams entgegengewirkt werden, vor lauter Glückseligkeit über neue technologische Möglichkeiten oder logikbedingtem Vollständigkeitswahn eine unnütze Funktion nach der anderen zu entwickeln.

“Es genügt, wenn das Produkt gut genug ist. Niemand will goldene Wasserhähne.”

Ein ähnliches Ziel wird mit dem Prinzip des “Minimum Viable Product” (MVP) verfolgt. Das MVP ist “die erste minimal funktionsfähige Iteration eines Produkts, das entwickelt werden muss, um mit minimalem Aufwand den Kunden-, Markt- oder Funktionsbedarf zu decken und handlungsrelevantes Feedback zu gewährleisten.” (Siehe Wikipedia “MVP”). Auch hier geht es unter anderem darum Entwicklungsteams auf die wesentlichen Aspekte eines Produktes zu fokussieren und zu verhindern, dass unnütze Funktionen entwickelt werden.

Beide Ansätze sind sicherlich nützlich, um die Fokussierung auf das Wesentliche zu fördern. Allerdings führen sie nur dann zum ersehnten Erfolg, wenn beide Ansätze bis zu Ende gedacht werden.

In der Praxis beobachte ich, dass sowohl Paretoprinzip als auch MVP auch als Totschlagargument genutzt werden. Insbesondere, wenn es um gestalterische bzw. nicht-funktionale Anforderungen geht, werden diese mit dem Verweis auf die 80/20-Regel oder auf MVP abgelehnt. An diesem Punkt beginnt für mich das Missverständnis. Sowohl Paretoprinzip als auch MVP scheinen dazu zu verleiten, die “Fokussierung auf das Wesentliche” fälschlicherweise als eine “Fokussierung auf das Funktionale bzw. Technische” zu verstehen.

“Wenn Deine Kunden goldene Wasserhähne erwarten, dann genügt es halt nicht, wenn Du nur eiserne Wasserhähne anbieten kannst, auch wenn aus denen prima Wasser rauskommt.”

Das Paretoprinzip kann bei der Fokussierung auf eine effiziente Produktentwicklung hilfreich sein. Aber nur dann, wenn klar ist, wie viel Prozent der Ergebnisse erreicht werden müssen, um die Erwartungen der Zielgruppe zu treffen. Wenn die Erwartungen der Kunden bei 92% liegen, dann hilft es nichts, wenn das Produkt aus Effizienzgründen nur 80% erfüllt. Der Anspruch an die Gestaltung, Funktionalität und Qualität eines Produktes ergibt sich aus den Erwartungen und Bedürfnissen der Kunden, nicht aus dem Effizienzanspruch des Unternehmens.

Ein MVP ist nützlich, um auf Basis der nötigsten Grundfunktionen eines Produktes und einer kleinen Gruppen leidensfähiger “Early Adopter” zu lernen, was im Markt erfolgsversprechend ist. Aber nur dann, wenn ein MVP lediglich als erste Iteration verstanden wird. Ein MVP ist ein wichtiger Schritt im Lernprozess eines Produktes in Richtung Marktreife. Damit ein zielführendes Lernen erfolgen kann, muss ein MVP alle nötigen Aspekte von Gestaltung, Funktionalität und Qualität abdecken. Nur so kann das Entwicklungsteam erkennen, was für den Erfolg notwendig ist und was nicht.

Egal ob man nun eine Fokussierung nach dem Paretoprinzip oder mit Hilfe eines MVPs anstrebt. In beiden Fällen führt das nur dann zum Erfolg, wenn man bei der Fokussierung die (möglichen) Anforderungen ganzheitlich betrachtet. Die Anforderungen aus denen bei der Priorisierung bzw. Fokussierung ausgewählt wird, müssen sowohl funktionale, nicht-funktionale, technologische als auch gestalterische Anforderungen umfassen.

Bei beiden Ansätzen gilt: Es ist erst gut genug, wenn die Erwartungen Deiner Kunden erfüllt sind.

“… auch wenn das heißt, die schönsten goldenen Wasserhähne der Welt zu entwickeln.”

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